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Chantal Michel: Kunstvolles Märchenschloss

Zum dritten und letzten Mal öffnet die Berner Multimediakünstlerin Chantal Michel die Tore zu ihrem Lebens- und Arbeitsort, dem idyllisch gelegenen Schloss Kiesen im Berner Oberland, das sie auf drei Etagen und im angrenzenden Park für ihre Fotografien und Videoarbeiten aus dem letzten Jahrzehnt neu eingerichtet und inszeniert hat. Der Ausstellungsort des verwinkelten Schlosses ist mehr als nur ein stimmungsvoller Rahmen für die darin präsentierten Werke, er ist integrales Element einer Gesamtinstallation. Über die sorgfältig durchdachten, atmosphärischen Arrangements, in welche sich die Arbeiten beginnend bei der Farbgestaltung von Zimmern über deren Möblierung bis hin zu Licht, Klang und Geruch wie selbstverständlich eingliedern, werden die Besucher manchmal irritiert, doch stets mit all ihren Sinnen in einen umfassenden Komplex miteinbezogen und zu einem Teil eines Gesamtkunstwerks. Aus allen Ecken und Enden ächzt und knarrt das altehrwürdige Gemäuer unter dem Treiben von flinken Hausgeistern, die sich hinter jeder Wandritze eingenistet zu haben scheinen. Von all den ausgestopften Tieren und allerhand wunderlichem Volk, das einen zeitweise sogar aus der Tapete heraus ins Visier nimmt und auf einen schiesst, lässt sich dagegen eine junge Frau in blauem Kleid mit weissem Spitzenkragen nicht im Geringsten stören: Das projizierte Bild zeigt eine selig vor sich hin Schlummernde – zusammengerollt in der schützenden Kiste einer Tiefkühltruhe. Immer wieder setzen sich Bilder in den Realraum fort und umgekehrt. Diesen Zustand des „sich mitten in einem Bild Wähnens“ setzt auch Chantal Michel in ihren Arbeiten als Künstlerin und Bildgegenstand in Personalunion immer wieder um. Besonders augenfällig in diesem Jahr ist, dass das Bildpersonal der Künstlerin, die ihren Körper gewissermassen den Figuren ihrer Arbeiten ausleiht, um die Charaktere eines Schweizer Altmeisters erweitert werden: Kein Geringerer als Albert Anker (1831?1910) stand Pate für die minutiösen Aneignungen von bekannten Gemälden wie etwa dem „strickenden Mädchen“, der „Kartoffelschälerin“ oder dem „Jungen mit Huhn“, wobei Chantal Michel ausdrücklich festhält, keine „Rolle“ zu spielen, sondern die dargestellte Person zu „sein“, so nahe fühle sie sich ihren Bildern. Doch bei aller Detailtreue und Übereinstimmung in Kleidung und typisch versunkenem Ausdruck will sich die proklamierte Vermischung von Künstlerin und angeeignetem Vorbild nicht recht einstellen, zu wenig schwer wiegen veränderte Hintergründe oder Posen, zu hart wirkt die fotografische Technik, etwas starr die Nachstellung. Der Mut zu einer freieren Umsetzung hätte die Werkgruppe bereichert. Es scheint, als zeigen die Fotografien Ankers Modelle in Fleisch und Blut, die seiner charmevollen Umsetzung in Öl auf Leinwand harren. Gerade in der Auseinandersetzung wird offenbar, welch ausserordentlich subtilen Ausdruck die vermeintlich einfachen Sujets Ankers verströmen. Überraschend sind hingegen grossformatige Stillleben, deren Verbindung zum restlichen Œuvre Michels sich erst auf den zweiten Blick erschliesst. Was Albert Anker einst als kleine, private Kammerstücke minutiös komponierte, setzt sie in hyperrealen Fotografien nach seinem Vorbild fort. Es ist nichts anderes als die sorgsame Inszenierung in der sich der Maler aus dem 19. Jahrhundert und die Gegenwartskünstlerin treffen. Gerne hat Anker in seinen Darstellungen Tassen, Karaffen, Gläser und Teller wie Requisiten immer wieder eingesetzt. Die mehrheitlich originalen Gegenstände gelangen in Michels Aufnahmen zu neuem, glanzvollen Leben in leuchtender Farbe. Gelungen ist der Bruch zwischen den nunmehr über hundertjährigen Dingen des Alltagslebens mit teils staubiger Patina und der neusten Fototechnik. Vom fotografisch anmutenden Realismus Ankers wird ein Bogen zu Fotografie mit malerischen Qualitäten geschlagen. Kunst und Privatleben fliessen bei Chantal Michel, die völlig in ihrem wundersamen Universum aufgeht, nahtlos ineinander über. Ihr betörendes Märchenschloss versteht sie insbesondere als Ort der Begegnung, der über einen Kunstraum hinausweist. Als Schlossherrin bewirtet Michel ihre Gäste mit selbstgemachten Köstlichkeiten im Garten-Café und jeden Samstag mit einem festlichen Pasta-Diner. Dieses Jahr steht an den Wochenenden sogar ein Zimmer in der Ausstellung für eine Übernachtung zur Verfügung, Verzauberungs-Faktor inklusive.
Mehr Texte von Sylvia Mutti †

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Chantal Michel
04.06 - 31.10.2010

Schloss Kiesen
3629 Kiesen,
http://www.chantalmichel.ch/
Öffnungszeiten: Samstag und Sonntag 11 bis 18h


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