Manfred M. Lang,
Von der ungeheuren Beschleunigung
Vorige Woche war ich in der Albertina – Druckgrafik von Alex Katz und die großformatigen Zeichnungen von Walton Ford ansehen. Habe mir viel Schauzeit genommen – eine ganze Stunde, jeweils zwei langsame Runden gedreht, mit den Arbeiten per Auge ein bissl gesprochen, nachgedacht – was man eben so macht, wenn man einmal viel Zeit hat.
Gestern hab ich in einer Zeitschrift folgenden Satz gelesen:
„Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens werden Geist und Auge an ein falsches Sehen und Urteilen gewöhnt. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschen vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken“.
Dieser Satz stammt jetzt nicht von unserem Zu-allem-eine-meinung-haben-philosophen Paul Lissmann. Nein. Friedrich Nietzsche formulierte ihn. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, was er unter ungeheurer Beschleunigung verstanden hat. Da flogen doch noch keine Flugzeuge herum, Auto- und Internetraserei waren unbekannt, nix wars noch mit dem CERN-Urknall, und die Sommerfrische stand in ihrer Blüte. Der Walzer gab in der Musik das Urtempo vor und Rambo fightete noch lange nicht in Kürzestschnittpassagen.
Dieser Nietzsche mit seiner ungeheuren Beschleunigung.
Aber was soll ich zur heutigen Beschleunigung sagen, wenn die damals schon ungeheuer war.
Also gehe ich diese Woche nochmals in die Albertina – such mir ein Bild aus mit einem Bankerl davor und versuche es mir wirklich mit geistigem und emotionalem Müßiggang in aller, aller, aller Ruhe anzusehen.
Ich wünsche einen schönen Sommer, vielleicht opfern sie ein klein wenig ihrer kostbaren und wahrscheinlich ungeheuer hektischen Urlaubszeit und sehen einfach nur ein paar Minuten einer Biene beim Blütenausschlürfen zu. Um Geist und Auge wieder richtiges Sehen und Urteilen beizubringen.
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