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1968. Die Große Unschuld: Die Revolution neu denken

Der in Mailand geborene Objektkünstler Mario Merz wurde in den sechziger Jahren mit einer Kunst berühmt, die ewige Werte und museale Weihen ablehnte. Die Ablehnung ging so weit, dass er sich mit Gegenständen seiner täglichen Umgebung archaisch anmutende Behausungen baute. Seine bekannteren Objekte sind aus vielen kleinen Sandsäcken einem Iglu nachempfunden und sollen eine „ideale organische Form“ darstellen. Dem ganzen fügt Merz noch zu Wörtern gebogene Neonröhren bei, um mit der Schrift die poetische Textur der Objekte – im wörtlichen Sinn - zum Leuchten zu bringen. Eine dieser Behausungen ist nun in der Bielefelder Kunsthalle zu sehen. Die riesige Schau mit dem Titel „1968.Die große Unschuld“, der zunächst Irritation hervorruft, zeigt in 300 Werken, wie wenig „unschuldig“ Künstler während der politischen Rebellion um das Jahr 1968 das bisherige Kunstsystem in Frage stellten. Für den Kurator der Kunsthalle, Thomas Ellein, ist es nach der im Jahre 2007 gezeigten Schau „1937 – Perfektion und Zerstörung“ bereits die zweite große Unternehmung die einem Umbruchsjahr gewidmet ist. Thomas Ellein spannt auch dieses Mal einen weiten Bogen: analysiert wird amerikanische, europäische und asiatische Kunst ebenso wie visionäre Architektur. Neben den Werken Mario Merz' finden sich unter anderem Pop Art, Fluxus, Happening, Performance, Land Art und Konzeptkunst. Alle Richtungen - seinerzeit vom Publikum missverstanden, vom Markt marginalisiert und von den Medien skandalisiert – haben Methoden, Medien und Materialen der Kunst völlig neu definiert. Beginnend bei der Verwendung von Filz und Fett, abstrakten Begriffen bis hin zum Einsatz des Körpers und von elektronischen Medien wurden neue Ereignisformen geschaffen, die dem klassischen Werkverständnis eine deutliche Absage erteilten. In diesem Zusammenhang widmet man in der Ausstellung auch einen großen Teil der österreichischen Kunstrevolte. Günter Brus Aktion „Malerei- Selbstbemalung- Selbstzerstörung“ sowie viele Werke anderer wichtiger Vertreter des Aufbegehrens, etwa Christian Ludwig Attersee, Arnulf Rainer, Valie Export und Peter Weibel, werden dem Bielfelder Publikum in Fotografien und Dokumentationen präsentiert. Der Aktionismus in Österreich hat mit einem eigenen Kapitel auch Eingang in den Katalog gefunden: Unter dem Titel „geht`s heim zu mutti“ beschreibt Roman Grabner das Orgien-Mysterien-Theater Hermann Nitschs sowie Valie Exports und Peter Weibels Straßenaktionen und stellt damit die Besonderheit der österreichischen Kunstrevolte vor, die nicht wie in Deutschland parallel zu breitem politischen Protest einer sich etablierenden Linken stattfand. Das Datum "1968" im Titel markiert, wenn man es genau nimmt, nicht den Umbruch, denn dieser begann in der Kunst bereits ab Mitte der 1960er Jahre. Doch man möge den Organisatoren die fehlende Präposition „um“ verzeihen. Denn der internationale Kontext, in den Thomas Ellein die ganzen 1960er/1970er Jahre stellt, erweist sich als besonders fruchtbar, bietet er doch mit seiner Perspektive die Gelegenheit, die Umwälzungen in der Kunst anhand der Werke von Yayoi Kusama (Japan/New York), Milan Knizak (Tschechoslowakei) oder auch Jerzy Beres (Polen) zu sehen, und setzt „das Phänomen der sechziger Jahre in der Kunst“ als eine internationale Bewegung von den politischen Umwälzungen ab, die als politische Rebellion anders als die Kunst nicht in so vielen Ländern gleichermaßen stattfanden. In der Gesamtschau bestätigt sich die Erkenntnis: Ohne die Kunst jener Jahre wären die Werke neueren Datums nicht möglich. Mit den heutigen Crossovers, multimedialen Installationen, postmedialen Environments, den Materialverwendungen aus der Alltagskultur und Ihren Bezügen auf die Massenmedien ist die Kunst heute immer noch stark von der künstlerischen Avantgarde der 1960er und frühen 1970er Jahre abhängig. Und vielleicht ist so manche Kritik am System jener Zeiten auch ein Anlass, heute in der sogenannten globalen Finanzkrise, das Bestehende noch einmal neu zu überdenken.
Mehr Texte von Berenika Partum

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1968. Die Große Unschuld
16.03 - 02.08.2009

Kunsthalle Bielefeld
33602 Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5
Tel: +49 5 21 329 99 50-0, Fax: +49 5 21 329 99 50-50
Email: info@kunsthalle-bielefeld.de
http://www.kunsthalle-bielefeld.de/
Öffnungszeiten: Mo - Di 11.00 - 18.00, Mi 11.00 - 21.00, Sa - So 11.00 - 18.00


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