Manfred M. Lang,
Die Nachträglichkeitsfurcht
Kennen Sie schon die Geschichte vom roten Punkt? Gegen Ende einer Ausstellung kommt ein honoriger Mann in die Galerie, schaut sich streng um, steuert auf ein Bild mit einem roten Punkt zu, bleibt ehrfürchtig stehen, sucht mit aufgeregter Miene den Galeristen und stammelt verzweifelt „eine wunderbare Arbeit – hätte ich mir sofort gekauft … aber leider, da ist ja schon ein roter Punkt dran … ich fürchte, so ein wunderbares Bild von dem Dings werd ich nie mehr wieder bekommen …“ – verzweifeltes Abgehen, ohne die anderen Bilder auch nur eines Blickes gewürdigt zu haben.
Vorsichtig geschätzt habe ich diese Szene sicher schon an die hundert Mal erlebt. Und immer gegen Ende einer Ausstellung.
Und jetzt die Szene, die auch sie immer öfter erleben können.
Zwei Männer treffen einander auf der Straße.
„Servus wie geht’s dir?“ - „Frag mich nicht“ - „ich verstehe“ … „immer wieder hab ich gesagt, das kann einfach nicht gut gehen“ – „wem sagst du das“ – „ich hab mein gesamtes Vermögen verloren“ – „wem sagst du das“ – „alle meine Aktien … absolut nichts mehr wert“ – „Schrott und Müll“ – „und ich sag dir … ich fürchte, das wird noch ärger werden, viel ärger“
Zwei ganz verschiedene Beispiele der Nachträglichkeitsfurcht. Die Erste ziemlich kindisch, die Zweite frustriert ob der eigenen Gier (wenn die Beiden ohnehin schon alles vorher wussten, hätten sie ja nur rechtzeitig aussteigen müssen). Aber wahrscheinlich sind beide Beispiele in den meisten Fällen nur ausredig. Um zu zeigen, wer und oder was man ist. Also in Wirklichkeit ziemlich kindisch.
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