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Das Rohe in differenzierter Bearbeitung

Art Brut wird auch in Österreich seit Jahrzehnten diskutiert. Der Grund ist zur Abwechslung einmal nicht Sigmund Freud, sondern der Psychiater Leo Navratil und die von ihm entdeckten „Gugginger“ sowie das inzwischen aus dem „Haus der Künstler“ hervorgegangene, 2006 eröffnete Art/Brut-Center in Gugging. Nun liegt erstmals ein, von Angelica Bäumer herausgegebener, zweisprachiger Sammelband mit Texten über den Stand der Praxis (in Form von Ateliers und Werkstätten) sowie der Diskussion über Art Brut in Österreich vor. Bekanntlich stammt der Terminus Art Brut vom Künstler Jean Dubuffet, der ihn erfand, um die Stigmatisierung als „Kunst von Geisteskranken“ zu beseitigen: „Wir sind der Ansicht, dass die Wirkung der Kunst auf uns in allen Fällen die gleiche ist, und dass es ebenso wenig eine Kunst der Geisteskranken gibt wie eine Kunst der Magenkranken oder der Kniekranken“, war seine gewagte und nicht unwidersprochen gebliebene Behauptung. Genau genommen geht die Auseinandersetzung mit der Art Brut, der rohen Kunst, aber schon auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Bereits 1857 publizierte der schottische Arzt W. A. F. Browne sein Buch „Art in Madness“ und schon 1864 konnte man bei Cesare Lombroso über „Genia e follia“ („Genie und Irrsinn“) lesen. So richtig in Fahrt kam die Diskussion aber mit der Adolf Wölfli-Monographie von Walter Morgenthaler (1921) und der „Bildnerei der Geisteskranken“ (1922) von Hans Prinzhorn. Sie bildeten die Grundlage für eine breite Rezeption, vor allem durch Künstler wie die Surrealisten, aber auch in Umkehrung der Schlüsse für die Diffamierung der ästhetischen Moderne durch die Nationalsozialisten als „entartete Kunst“. Der Sammelband „Kunst von Innen. Art Brut in Austria“ bietet einen guten Überblick sowohl über die „Entdeckungs“- und Rezeptionsgeschichte als auch über die verschiedenen, einander teilweise widersprechenden Ansätze der Diskussion. So macht es sich sehr gut, dass die teils stark divergierenden Thesen und Schlüsse von Jean Dubuffet, Leo Navratil und Peter Gorsen, auf dessen schon 2001 zuerst in der Kunstzeitschrift Parnass erschienen Beitrag „Das Prinzip Art Brut“ eine Antwort von Leo Navratil zu lesen ist, neben einander gestellt sind oder auch, dass auf den Beitrag „Art Brut – gestern und heute, ein Überblick“, der mit dem Wunsch endet, Art Brut möge endlich ebenso wie „normale“ zeitgenössische Kunst betrachtet werden, ein Text folgt, der im Gegensatz dazu zu dem Ergebnis kommt, für ein wirkliches Verständnis der Besonderheit der Art Brut sei die Kenntnis der dahinter stehenden Krankengeschichten nötig. Neben einigen Beiträgen über den Einfluss der Art Brut auf die österreichischen Arts Culturels bietet der Band auch noch eine ganze Reihe von Texten, die einen Ist-Stand in Bezug auf Ateliers, Werkstätten und Projekte aber auch Museen und Sammlungen abbilden. Dieser Teil macht den Reader nicht nur als Momentaufnahme spannend, sondern wird sicher auch in Zukunft als Quelle von Interesse sein. Nur eine Auswahlbibliographie hätte man sich noch gewünscht. Kunst von Innen. Art Brut in Austria Angelica Bäumer (Hrsg.), Wien (Holzhausen) 2007 ISBN 978-3-85493-126-3 EURO 38,-
Mehr Texte von Andrea Winklbauer

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