Werbung
,

Anna Jermolaewa - Rehearsal for Swan Lake: Ruf nach dem Machtwechsel

Auf der Liste „Wichtige Landeskennzahlen europäischer Länder“ finden sich noch die ČSSR und Jugoslawien, auch Deutschland ist noch geteilt in BRD und DDR. Die kleine Plakette mit den ehemaligen Vorwahlen ist in einer alten Telefonzelle angebracht, die neben fünf weiteren über lange Jahre im österreichischen Flüchtlingslager Traiskirchen stand. Vielen dort Angekommenen ermöglichten sie einen ersten Kontakt in die alte Heimat, die diese Menschen aus vielerlei Gründen verlassen mussten. Auch Anna Jermolaewa konnte von einer dieser Telefonzellen aus im Jahr 1989 ihrer Familie berichten, dass sie nun endlich im Westen angekommen und damit in Sicherheit sei. Das geschah damals und nun, 35 Jahre später, hat Anna Jermolaewa die sechs Fernsprechkabinen, die im Handyzeitalter ihre Funktion verloren haben, nun in den Hof des Österreichischen Pavillons auf der Biennale di Venezia gestellt.

Die 1970 in Leningrad (UDSSR) geborene Künstlerin wurde bereits mit siebzehn Jahren Mitglied einer Oppositionspartei und musste schließlich mit ihrem Ehemann, dem ukrainischen Dichter Vladimir Yaremenko, über Polen nach Österreich fliehen, nachdem sie ins Visier des KGB geraten waren.

Nachdem sie politisches Asyl in Österreich erhalten hatte, studierte Jermolaewa zuerst Kunstgeschichte an der Universität Wien (Abschluss 1998) und schließlich an der Akademie der bildenden Künste Wien (Abschluss 2002). Seitdem hat sie in ihren Arbeiten immer wieder ihre politischen und migrantischen Erfahrungen thematisiert und sich privat für Geflüchtete eingesetzt. So ist sie Gründungsmitglied des Vereins Ariadne https://ariadne.or.at, der sich um die Anliegen von Geflüchteten kümmert. Im Österreichischen Pavillon hat Jermolaewa ihre Erfahrungen zu einer Geschichte aus einem neuen und vier historischen Werken verwoben.

Die neue Videoarbeit Rehearsal for Swan Lake entstand gemeinsam mit der ukrainischen Tänzerin und Choreographin Oksana Serheieva, die zu Beginn des russischen Angriffskrieges aus der Ukraine nach Wien geflohen war. Das Ballett Schwanensee stand in der ehemaligen UDSSR für Veränderung und Regimewechsel, wie Anna Jermolaewa erklärt. Tagelang wurde das Stück im Fernsehen im Loop gesendet, etwa 1982, nach dem Tod von Leonid Iljitsch Breschnew. Oksana Serheieva selbst performt während der Biennale immer wieder kurze Ausschnitte aus dem Ballett. In den weiteren drei Räumen des Pavillons hat Anna Jermolaewa jeweils eine Arbeit installiert. The Penultimate zeigt neun unterschiedliche Pflanzen, von denen jede einer Revolution oder einem politischen Umbruch den Namen geliehen hat, etwa die roten Nelken, die 1974 das Ende der Diktatur in Portugal begleitet haben, oder die fehlgeschlagene Kornblumenrevolution in Weissrussland im Jahr 2006. Die Projektion im Nebenraum zeigt das 2006 entstandene Video Research for Sleeping Positions, wie die Künstlerin versucht, auf einer Bank im Wiener Westbahnhof eine angenehme Schlafposition zu finden, so wie sie es schon 1989 eine Woche lang nach ihrer Ankunft in Wien getan hatte. Nur diesmal mit inzwischen neu installierten Lehnen als Hindernisse die eine Liegeposition verunmöglichen. Im Raum neben Rehearsal for Swan Lake feiert die Installation Ribs, den Erfindungsreichtum der Menschen, die in der Sowietunion westliche Schallplatten auf Röntgenbilder kopierten um die verbotene Musik hören und somit weiter verbreiten konnten.

Selten vermittelt Kunst ein politisches Statement so klar und gleichzeitig subtil und humorvoll wie im Fall von Anna Jermolaewas Beitrag für die 60. Biennale di Venezia. Das Thema des Pavillons fügt sich hervorragend ein in das erst knapp ein halbes Jahr nach der Bestellung Anna Jermolaewas bekanntgegebene Thema der diesjährigen Biennale, „Fremde Überall“. Zusätzliche Bedeutung und Aktualität erhält der Beitrag noch durch die jüngsten Enthüllungen zum Einfluss des russischen Geheimdienstes in Österreich. Es ist Zeit, dass Schwanensee wieder im russischen Fernsehen in Dauerschleife gesendet wird.

Mehr Texte von Werner Remm

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Anna Jermolaewa - Rehearsal for Swan Lake
20.04 - 24.11.2024

Österreichischer Pavillon - La Biennale di Venezia
30122 Venezia, Giardini della Biennale
https://www.biennalekneblscheirl.at
Öffnungszeiten: täglich 11 - 19 h, Fr, Sa bis 20 h,
Montag geschlossen außer 25/07, 15/08, 5/09, 19/09, 31/10, 21/11


Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: