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Sieh Dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit: Das Individuum und das Kollektivum

„Ähnlichkeit ist überhaupt keine künstlerische Kategorie. Es geht um eine Doppelsprache: Individuelles Gesicht und Typus Mensch mit allen Zügen der Zeit“, fasst es der Kunsthistoriker Paul Ferdinand Schmidt in seinen Überlegungen zur Bildgestaltung der jungen Kunst 1927 zusammen und definiert damit trefflich, was das neusachliche Typenporträt ausmacht. Die mondäne wie androgyne Journalistin, die selbstbewusst, nachgerade fordernd wirkende Prostituierte, der Architekt mit Hut und Anzug, der über und über tätowierte Schiffsheizer, die Mutter, das eigene Konterfei, die Physiognomie der jeweiligen Dargestellten mag stimmen, doch wirken sie oftmals distanziert oder in Gedanken versunken, der Ausdruck emotionslos. Die Hinweise zur Zugehörigkeit der jeweiligen Gruppe liefern Umfeld, Kleidung oder Accessoires.

Eine Entwicklung, die so auch in der Fotografie festzustellen ist. „...bei einer gewissen Distanz verschwinden die Unterschiede, bei einer gewissen Distanz hört das Individuum auf, und nur die Universalien behalten recht. Das Individuum und das Kollektivum (oder das Universale) sind dann – o salomonische Entscheidung – Angelegenheiten der wechselnden Entfernung“, schreibt Alfred Döblin nach einigem Ausholen im Vorwort des November 1929 erschienenen Langzeitprojektes „Antlitz der Zeit - 60 Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts“ des Photographen August Sander.

Die Neue Sachlichkeit, die als Reaktion auf den ersten Weltkrieg und seine Folgen ihren Ursprung hatte, ist weniger ein konkretisierbarer Epochenstil, sie reagiert auf ein Lebensgefühl, ein Bedürfnis nach Ordnung, Klarheit, Wahrheit. Das Typenporträt jener Zeit erfüllt oft eine zweifache Funktion, für eine bestimmte Person ebenso wie als beispielhaft für jene Gruppe, der sie angehört. Soweit, so bekannt.

Eine von Anne Vieth konzipierte und von Dierk Höhne kuratierte Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart blickt nun über den kunsthistorischen Tellerrand hinaus auf eine gesellschaftliche Entwicklung und zeigt damit, dass es mit diesem Prinzip „Ein Konterfei für alle“ so harmlos nicht weiter ging. Das der Ausstellung den Titel gebende „Sieh dir die Menschen an!“ bezieht sich auf eine 1930 erschienene Publikation des Mediziners Gerhard Venzmer zur Typisierung von Menschen anhand von äußeren Merkmalen und steht beispielhaft für einen Trend, der sich in eine üble Richtung bewegte. Denn, was ist mit jenen, die nicht in die Ordnung passen, die man mit jenen Typisierungen, schaffen wollte?
Anne Vieth, die während der Planung der Ausstellung vom Kunstmuseum Stuttgart als neue Leiterin zur Mercedes-Benz Art Collection wechselte, schreibt in ihrem Katalogbeitrag nachgerade als These zur Ausstellung: „Wo Zuschreibungen des „Abnormen“ unreflektiert blieben, ebneten sie den Weg für den Gebrauch von Typologien, Physiognomik und Charakterologie in der nationalsozialistischen Rassenideologie. Aus heutiger Perspektive schwingt die drohende Gefahr eines Missbrauchs der Bewertung eines Menschen nach systematisierten Äußerlichkeiten bei der Betrachtung der neusachlichen Typenporträts stets mit.“ Wie es mit derlei Klassifizierungen von Menschen während des NS-Regimes weiter ging, gehört zu den dunkelsten Kapiteln der Geschichte. In der Deutlichkeit wie es in der Ausstellung und in der ausführlich wie interdisziplinären Begleitpublikation illustriert wird, hat man dies wohl selten für ein breiteres Publikum aufbereitet gesehen. Dass man damit durchaus auf ein gesteigertes Interesse trifft, zeigt sich auch daran, dass der Katalog in der Station im Kunstmuseum Stuttgart ebenso wie im Verlag als vergriffen gilt.

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Die Ausstellung wird in adaptierter Form von 11. Mai bis 01.September in den Kunstsammlungen Chemnitz – Museum Gunzenhauser zu sehen sein. Das eine oder andere Werk allerdings, das zur Zeit noch in Stuttgart hängt, wird dem Vernehmen nach nächstens im Wiener Leopold Museum (Neue Sachlichkeit in Deutschland 24.05.2024-29.09.2024) zu sehen sein.

Mehr Texte von Daniela Gregori

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Sieh Dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit
02.12.2023 - 14.04.2024

Kunstmuseum Stuttgart
70173 Stuttgart, Kleiner Schlossplatz 1
Tel: +49 (0) 711 – 216 21 88, Fax: +49 (0) 711 – 216 78 20
Email: info@kunstmuseum-stuttgart.de
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Öffnungszeiten: Di-So 10-18, Fr 10-21 h


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