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Stadt von oben

Aus Anlass von „Wien von oben – Die Stadt auf einen Blick“ im Wien-Museum Camillo Sitte, der einflussreiche Theoretiker des Urbanismus um 1900, pflegte seine Arbeit, die in dem Buch „Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ zusammengefasst war, folgendermaßen vorzubereiten: Kam er in einen Ort, erkundigte er sich nach zwei Dingen, die er stets beherzigte - er fragte nach dem besten Hotel und nach dem höchsten Aussichtspunkt. Unwahrscheinlich, dass der allseits belesene Oskar Kokoschka den Wiener Stadtbaukünstler nicht kannte. Ganz sicher jedenfalls, dass er Sittes Methode zu der seinen machte. Wenn er eine Stadt bereiste, um sie zu malen, und darin bestand ein Gutteil seiner Arbeit in der zweiten Hälfte der 1920er, dann pflegte er im besten Hotel abzusteigen und sich einen Standpunkt weit oben zu sichern, an dem er seine Leinwand aufbauen konnte. „Heute fange ich auf dem Balkon des höchsten Hauses von Paris mit einer Landschaft an“, schreibt er im November 1924; oder, drei Wochen später aus Zürich: „Das Haus ist das höchste der Stadt“; oder, acht Wochen danach, aus Avignon: „Hier ist das höchste Gebäude, das ich kenne“; oder, diesmal im November 1927, diesmal aus Lyon: „Ich male wieder einmal vom höchsten Zimmer auf einem kleinen Berg“. In einem Roman, der aus der Romantik stammt, als sie eine Epoche war, in „Notre-Dame de Paris“ von 1831, blickt Victor Hugo auf die Stadt, wie er sie sich für das Mittelalter vorstellt: „Der Boden der Universitätsstadt war hügelig. Im Südwesten hatte er eine große Beule, den Berg der heiligen Genoveva. Aus der Höhe von Notre-Dame gesehen, machten die Häusermassen und die enggewundenen Straßen den merkwürdigen Eindruck, als stürzten sie sich fast senkrecht und in wilder Unordnung die Abhänge dieses Bergs nach dem Seine-Ufer hinunter. Ein Häuserblock schien zu fallen, ein zweiter schien aufwärts zu klettern; es war, als hielte sich einer am anderen. Ein ununterbrochenes Gewimmel unzähliger schwarzer Punkte auf dem Straßenpflaster machte das ganze Bild beweglich. Es war das Volk, wie es dem aus der Höhe niederblickenden Betrachter erschien“. Hugo wählt die Perspektive von oben, von der Fassade der titelgebenden Kathedrale aus, „La vue d'en haut“ ist das Kaptiel überschrieben. Er imaginiert das Paris des 15. Jahrhunderts, die Handlung um Esmeralda und Quasimodo spielt im Jahr 1482. Was der Autor von oben sieht, ist wiederum ganz die Realität seiner eigenen Zeit, ist die Masse von Volk und Bebauung, die die moderne Stadt kennzeichnen. Charles Darrow gilt als der Erfinder von „Monopoly“. 1935 erlangt er sein Patent dafür. Der Spielplan gibt die ideale Stadt vor, vier Straßenzeilen im Karree, überschaubar und geordnet, ein Entwurf aus der Wunderkiste des Utopischen. So erinnert das Quadrat an Albrecht Dürers exakt abgezirkeltes Gemeinwesen, das er 1527 in seiner „Underweisung der Messung“ skizzierte. Dieses wiederum entspricht den Beschreibungen der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlan, deren Unterwerfung man nicht zuletzt von Thomas Morus' „Utopia“ inspiriert wusste. Dann also auch „Monopoly“. Darrow kupferte dafür ein Spiel ab, das „The Atlantic City Game“ hieß, und tatsächlich sind die Straßennamen des kapitalistischen Sehnsuchtsortes jenen des Glücksspielortes in New Jersey sehr nahe. Als 1937 eine deutsche Version bei Schmidt in Nürnberg herauskam, wechselten die Straßennamen ihre Provenienz und wurden berlinerisch. Die nachher Schlossallee hieß damals „Insel Schwanenwerder“, sehr zum Ärger des Propagandaministers Goebbels, der eben hier zusammen mit anderen Nazi-Größen zwangsarisierte Anwesen bewohnte und keine Anspielungen auf usurpierten Reichtum aufkommen lassen wollte. 1953 erfolgte die Umbennenung der monopolisierten Flure. Die neue Stadt war die alte des 19. Jahrhunderts, mit Klassikern der Literatur und urbanen Funktionen als Namensgeber, alles schön neutral und gemeinwohlstiftend. Der utopische Plan blieb erhalten. Doch er hatte die Orientierung gewechselt. Die ging nun nach rückwärts. Francesco Guardi, Ballonaufstieg, 1784 Im Jahr 1783 wurde der Mensch zum ersten Mal leichter als Luft. Als die Montgolfière sich in den Himmel erhoben hatte, war ein weiterer Traum der Aufklärung, durch Wissenschaft und Rationalität die Elemente zu bezwingen, Wirklichkeit geworden. Da verwundert es nicht weiter, dass die Malerei das ihre dazu beitrug, die neue Technik zu besingen. Sie zeigte den Jubel unten, und sie zeigte die Ballons oben, und sie bekam auf wundersame Weise für jene Regionen in den Bildern, die sich bis dato im Blau der Atmosphäre erschöpft hatten, ein Motiv. Es mussten nicht mehr Götter sein, nicht mehr Engel und keine himmlischen Erscheinungen, die die obere Hälfte der Gemälde bevölkerten. Nun war der Mensch selbst vorgerückt in die Sphäre des Darüber. Franceso Guardi hat 1784 diese Sphäre erstmals ausgelotet, um das Fortschrittseuphorische und Optimistische dieses Vorgangs in den Mittelpunkt zu rücken. Die Kehrseite der Progression, das, was ein der Probleme längst innegewordenes Jahrhundert dann „Dialektik der Aufklärung“ nennen wird, eine Kehrseite, die Goyas 20 Jahre später vollzogene Auseinandersetzung mit dem Motiv bereits zu erkennen gibt, steht bei Guardi nicht auf dem Tapet. Was hier, eingebettet in die traumverlorene Schönheit der bald nicht mehr existierenden Republik Venedig, gezeigt wird, ist die Eroberung einer Dimension. Und damit einer Perspektive. www.wienmuseum.at

Mehr Texte von Rainer Metzger

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