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Mit anderen Augen. Das Porträt in der zeitgenössischen Fotografie: Und ewig lockt das Antlitz

Die Augen blicken scheinbar selbstbewusst. Der Körper steht in Seitenansicht vor der Wand und ist leicht zum Betrachter gedreht. Der junge Mann trägt einen weißen Overall mit Farbflecken. In seiner linken hält er lässig einen Pinsel. Vor im sieht man in extremem Anschnitt eine spiegelnde Fläche mit geometrischen Gebilden. Könnte ein Gemälde sein. Aus dem Hintergrund strahlt Gegenlicht durch die Fenster. In der Malerei taucht solch ein Blick seit dem 19. Jahrhundert vermehrt in Selbstporträts auf. Der Ernst jugendlichen Schöpferwillens, besser -drangs, so könnte man es charakterisieren. Ist das ein Porträt eines jungen Kunststudenten? Charles Fréger, Jahrgang 1975, inszenierte doppeldeutig diesen Anstreicher. Weiß man's, äußert sich die Würde eines Standes, dem das Attribut "genial" selten zufällt. Aber ob diese Einschätzung auch stimmt? Gesichter sind aussagekräftig, aber die Deutungen stimmen meist nur für denjenigen, der sie vornimmt. Diese Erfahrung kann man in der Ausstellung "Mit anderen Augen. Das Porträt in der zeitgenössischen Fotografie machen. Rund 250 Arbeiten, darunter zahlreiche vielteilige Installationen oder Tableaus, präsentieren das Kunsthaus und die Kunsthalle Nürnberg in einem aufregenden Parcours. Fréger hängt im ersten Raum der Kunsthalle. Dort sind Arbeiten versammelt, die direkt oder metaphorisch etwas mit August Sander (1876-1964), dem großen fotografischen Chronisten der "Menschen des 20. Jahrhunderts", zu tun haben. Ganz direkt zitiert Joerg Lipskoch, geboren 1972, diesen genialen Lichtbildner mit seiner Arbeit "Menschen des 21. Jahrhunderts". Er porträtiert seit 2013 Personen unterschiedlicher Gewerke und bietet damit ein Panoptikum an Gesichtern unserer Zeit. Passend zur Gegenwart stellt er sie in einen Blog. In der Ausstellung sind ist eine Auswahl folgerichtig per Monitorshow zu betrachten. Im Kunsthaus etwa bewegen die zahllosen Bilder von "Einwanderern". Zusammen addierte Passfotos ergeben eine Fototapete der anderen Art, die der Niederländer Erik Kessels an die Wände brachte. Diese Installation aus Schutzsuchenden besteht aus Fotos, die der Künstler auf deutschen Flohmärkten als Found Footage kaufte. Sie belegen die Migrationsgeschichte unseres Landes und werfen natürlich ein umso helleres Licht auf unsere gespaltene Gegenwart. Aber dann berücken die dokumentarischen Bilder des 1976 geborenen Südafrikaners Pieter Hugo. Vor sieben Jahren besuchte er eine der größten Mülldeponien für Elektroschrott auf unserem Planeten. Sie befindet sich am Stadtrand von Accra in Ghana. In der Ausstellung sind Videos zu sehen. Der Fotograf zeigt die Männer in ihrem "Arbeitsumfeld" auf der Kippe. Sie bewegen sich nur wenig, stehen also wie dem Fotografen Modell, während das Leben auf der Halde dahinter in seiner ganzen Tristesse sichtbar wird. Im Alltag schmelzen die Männer in Feuern kostbares Metall aus den kaputten Geräten, die auch aus unseren Gesellschaften stammen. Gesundheitliche Schäden garantiert. Oder diese unglaubliche Tradition in Albanien, der die 1977 geborene Pepa Hristova nachspürte. In den Bergen im Norden lebt man noch ganz nach altem Muster. Die Männer regieren, geheiratet wird unter Zwang. Wenn dort jedoch eine Familie keine männlichen Nachkommen hat, zieht ein wohl einzigartiger Mechanismus. Eine Tochter verpflichtete sich dann zur ewigen Enthaltsamkeit und schwört allem Sinnlichen ab, um fortan genau wie ein Mann zu leben, zu arbeiten. Sie kann mitbestimmen wie männliche Oberhäupter. Diese Fotografien spiegeln, wie das gesellschaftliche Geschlecht den Habitus ändert. Im Mittleren Alter sind manche Physiognomien so männlich, dass es gespenstisch erscheint. Trotz der ungeheuren Vielfalt der Werke lassen sich dennoch ein paar inhaltliche rote Fäden verfolgen. Etwa die Auseinandersetzung mit jungen Erwachsenen. Selbst wenn hier die nachdrücklichen und schulbildenden Arbeiten von Rineke Dijkstra fehlen, bekommt man einen wunderbaren Eindruck über fotografische Möglichkeiten. Jerry L. Thompson, der in den frühen 1970er-Jahren Walker Evans (1903-1975) assistierte, begab sich 1973 ins Nachtleben auf Coney Island. Die Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen inszenatorische Glanzleistungen von jungen Frauen und Männern, die nicht nur ihren Dresscode ins Bild setzen, sondern ganz bewusst ihre Haltung über den Körper und die Mimik zum Ausdruck bringen. Diesen Amerikanern nimmt man sofort ab, dass in ihnen etwas Rebellisches schlummert. Rechts daneben ein Zeitsprung: Eine Serie junger Frauen, von 2013 an entstanden, vermittelt ein ganz anderes Bild. Die tätowierten Damen zeigen, dass sie eine Schicht medialer Bewusstseinsschminke vorlegen, um sich selbst und ihre Gefühle vor der Kamera zu verbergen. Oder sind derartige Auslegungen Fiktion. Thomas Ruff will es uns beweisen. Sein "Porträt (T. Ruff)" von 1991 zeigt ihn verdoppelt. Der Künstler beschäftigte sich schon während des Studiums mit dem Porträt und fand einen konzeptuellen Zugang. Er beantwortete die Frage, wie eine gegenständliche Fotografie über das Abgebildete und seine Beschaffenheit hinaus auch ein Mehr an Bedeutung transportieren kann. Mit seinem sehr frühen Einsatz digitaler Mittel setzte Ruff Maßstäbe. Fotos lügen eben. Oder doch nicht? Was ist die fotografische Wahrheit? Ist es so, dass die Wirklichkeit der Stempel von Roland Barthes' Index ist, der durchs Licht aufs Negativ, den Sensor und dann aufs Papier oder den Giclée-Print kommt? In der Vielfalt der Ausstellung kommen eben nicht nur die menschlichen Fragen, sondern auch theoretischen Aspekte der Fotografie auf die Bühne. Es gibt Inszenierte Familienporträts, dörfliche Idyllen, Berufsbilder – kurzum das gesamte Spektrum des Porträts tritt auf den Plan. Die Ausstellung bietet einen exzellenten Überblick über das Porträtschaffen zeitgenössischer Fotografen seit den 1970er-Jahren. Sie ist mit Protagonisten wie Annette Kelm, Peter Piller, Timm Rautert, Beat Streuli, Thomas Struth, Wolfgang Tillmans, Christopher Williams oder Tobias Zielony ein Who-is-who der künstlerischen Lichtbildnerei. Die Schau erlaubt zudem Entdeckungen wie Hiroh Kikai, Eckhard Korn oder Jana Kölmel. An den zwei Schauplätzen sind die Werke bis zum 15. Januar 2017 zu sehen. Neben der SK Stiftung Kultur, Köln, und dem Kunstmuseum Bonn ist Nürnberg die zweite Station. Es ist ein opulent bebilderter Katalog (39,80 Euro) im Snoeck Verlag, Köln, erschienen.
Mehr Texte von Matthias Kampmann

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Mit anderen Augen. Das Porträt in der zeitgenössischen Fotografie
14.10.2016 - 15.01.2017

Kunsthalle Nürnberg
90402 Nürnberg, Lorenzer Straße 32
Tel: +49 911 231-2853, Fax: +49 911 231-3721
https://www.kunstkulturquartier.de/kunsthalle/
Öffnungszeiten: Di - So 10.00 - 18.00, Mi 10.00 - 20.00

Kunsthaus Nürnberg
90402 Nürnberg, Königstraße 93
Tel: +49 9 11 / 2 31 1 46 78
https://www.kunstkulturquartier.de/kunsthaus
Öffnungszeiten: Di, Do-So 10-18, Mi 10-20 h


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