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M+M - 7 Tage: Die Brüste der Rezeptionsästhetik

"Und, liebst du meine Brüste?", fragt sie. Er: "Ja sehr." "Welche liebst Du mehr, die linke oder die rechte?" "Beide gleich." Offenbar liebt er einfach alles an ihr. Die Knie, den Po – einfach alles. Wenn man ausschließlich diesen Dialog liest oder hört, verliert sich der Sinn in irgendeiner Nichtigkeit zweier Lover, die durchaus in der Foto-Story einer Boulevardgazette für adoleszente Kids ihre Berechtigung hätte. Doch es ist erheblich mehr als ein belangloses Tête-à-Tête zwischen Frischverliebten. Der Besucher der Galerie im Taxispalais in Innsbruck wird mit dem bis dato Unmöglichen konfrontiert: mit einem Film, der sich nicht nur gleichzeitig doppelt zeigt, sondern zudem zwei Lesweisen einer Szene anbietet, Filmgeschichte dabei spiegelt und das Medium dadurch selbst reflektiert und genau aus diesem komplexen Gefüge seine Spannung bezieht. Dieser Film trägt den Titel "Sonntag" und ist Bestandteil des Projekts "7 Tage", das aus sieben Filmen besteht, die jeweils einem Wochentag gewidmet sind und in entsprechender Abfolge gezeigt werden. Die Arbeit stammt vom in München lebenden und arbeitenden Künstlerduo M+M. "Sonntag" wurde 2009 gedreht und ist der älteste Film der Serie, die in diesem Jahr ihren Abschluss erfuhr. Diese seltsame Liebesszene ist vielfach kodiert. Der Besucher wird Zeuge eines erstaunlichen Remakes. Vorlage ist Jean-Luc Godards Meisterwerk "Die Verachtung" aus dem Jahr 1963. In den Hauptrollen damals Michel Piccoli und Brigitte Bardot. Heute sind es Christoph Luser, Kathrin Zasche und Alice Weis. Wieso drei Menschen? M+M wiederholen nicht einfach das Setting des berühmten Vorläufers. Sie verdoppeln es auf ebenso magische wie unheimlich einfache Weise. Da ist die hübsche Blonde (Zasche), die jedoch auf einer zweiten Leinwand rechts einen erheblich jüngeren Konterpart bekommt. Das Mädchen mag vielleicht sechs, sieben Jahre alt sein. Sie trägt zudem im Unterschied zur Erwachsenen eine Unterhose. Doch die Dialoge bleiben links wie rechts dieselben. Die Kameraeinstellungen sind gleich, aber nicht identisch. Das ist bei allem Unbehagen ein wunderbares Echo und eine Weiterführung des ebenso wunderbaren Godard, der in seinem Film die unheimlichen Mechanismen der pornografischen Fragmentierung des weiblichen Körpers in einer Meta-Szene, die so ganz unscheinbar nett daherkommt, reflektiert. Es sträubt sich etwas, und dennoch regt das Setting an, zu vergleichen. Und man mag ob des beinahe schon kalauernden Dialogs über den Vergleich der beiden Brüste natürlich lachen, aber sich auf keinen Fall einen Vater vorstellen wollen, der auf diese Weise mit seiner Tochter konversiert – oder eine Tochter in dem Alter mit dieser speziellen Vertraulichkeit. Jedem Wochentag liegt ein anderer Film als Vorlage zugrunde, jedoch fügen sie sich nicht zu einer übergeordneten Erzählung. Manchmal sind die Settings nachgebildet, manchmal neu interpretiert, etwa im Fall von "Donnerstag", der sich auf einen Historienfilm über Franz von Assisi von 1988 ("Francesco", Regie: Liliana Cavani) bezieht, nun in einer Management-Etage in unserer Gegenwart spielt. Ob "The Shining" (1980, "Montag") oder "Der Mann der Friseuse" (1990, "Dienstag") – alle Filme sind eigentlich nicht mehr als ein Anlass, um sich je verschieden über die Bedingungen der Möglichkeiten von filmischer Fiktionalität Gedanken zu machen. Vielleicht ist "7 Tage" der bislang originellste Versuch einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Rezeptionsästhetik. Das beginnt schon bei der Inszenierung. Die ist nämlich nicht kanonisch fixiert. In der Ausstellung im Casino Luxemburg wurden die Filme räumlich getrennt, aber gleichzeitig auf verschiedenen Leinwänden gezeigt. Hier im Taxispalais jedoch nimmt der Besucher auf Kinosesseln Platz, die auf einem Podest zwischen den Schenkeln eines rechtwinkligen Dreiecks, das aus vier Leinwänden gebildet wird, stehen. Mal werden die Filme auf den rechten beiden, dann auf den linken beiden Leinwänden gezeigt. Mal sieht man sie im Winkel links und rechts. Das bedeutet, dass der Besucher einerseits über die Materialität der Sessel bereits auf die Konditionen seiner Betrachtung hin sensibilisiert wird. Andererseits kommt es auf diese Weise niemals dazu, dass man sich in diese Auswahl von sieben Szenen derart vertiefen kann, dass man sich verliert. Stets wird man auf jene Bedingungen der Betrachtung aufs Neue aufmerksam gemacht, wenn ein Tag zuende geht. Insgesamt verläuft die Woche über 20 Minuten, eine Länge – oder besser Kürze –, die den Betrachter süchtig macht, denn bei jedem Durchlauf sind neue Entdeckungen zu machen. Etwa die Verschränkungen der Screens miteinander, die mit jeder Sekunde neue Relationen bilden. Die Beispiele führen verschiedene Interaktionen, Situationen des Sehens – und Mordens – vor, sie wecken nicht nur Vorurteile, sie lösen diese förmlich aus. Und das geschieht keineswegs mechanisch oder methodisch. Zurück zu Godard. Das Setting wird im Original von einer das Bild tragenden musikalischen Geste begleitet, die das Ausmaß der seltsam untragischen Tragödie, die sich später im Film abspielt, von M+M aber nicht gezeigt wird, erahnen lässt. M+M invertierten diese Melodie, die dadurch fremd und viel weniger herzergreifend wird. Es ist ein Spiel mit der Erinnerung, mit dem Gedächtnis, dem Wissen. Hier stehen zudem Bedeutungen und das Bedeuten selbst auf der Kippe. M+M, die mit bürgerlichen Namen Marc Weis (Jahrgang 1965) und Martin de Mattia (Jahrgang 1963) heißen, zeigen zwei Ansichten, bei denen sich der Ton überlagert, man also nur bedingt versteht, was den Betrachter wieder auf seine Tätigkeit des Betrachtens zurückwirft. Man achtet stärker auf die Gesten. Und wie verhält es sich mit der Mimik des in jedem Film auftretenden Christoph Luser? Das ist nämlich immer wieder anders, je nachdem, mit wem er's denn zu tun bekommt. Oder meinen wir das nur? Meinen wir nur, dass das Rasiermesser an seinem Hals prickelnde gefährliche Erotik evoziert, wenn die schöne rothaarige Daniela Schulz es führt? Warum lässt den Autor dieser Zeilen das Bild nebenan mit Oliver Mallison kalt? Vielleicht sind es genau diese Fragen, die sich aufdrängen, die Bedingungen des Diskurses der Bilder offenlegen und auf diese Weise jene verstörende Qualität der Arbeit ausmachen. Außerdem: Kunsthistoriker sammelten eine Ewigkeit Wissen durch das Prinzip des Vergleichens. Hier steht das Vergleichen als Methode auf dem Prüfstein – und wird im Zweifel auf ungeheuerliche Weise durch einen Dialog über Brüste karikiert.
Mehr Texte von Matthias Kampmann

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M+M - 7 Tage
03.10 - 29.11.2015

Taxispalais Kunsthalle Tirol
6020 Innsbruck, Maria-Theresien-Str. 45
Tel: +43 512 594 89 401
Email: info@taxispalais.at
http://www.taxispalais.art
Öffnungszeiten: Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr


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