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Wirklichkeiten

Am 3. Mai 1968 wird in Wien eine Ausstellung eröffnet. Schauplatz ist die Secession, gegeben werden „Wirklichkeiten“, sechs künstlerische Positionen, die seither einen Begriff liefern für einen durchaus realitätsnahen, aber ebenso ins Hochgetürmte, Bizarre, Losgelöste entlassenen Zugang zur Welt. Am 3. Mai 1968 wird in Paris eine Universität geschlossen. Schauplatz ist Nanterre, es ist der Beginn des berühmten Monats der Revolution mit ihren durchaus realitätsnahen, aber ebenso ins Hochgetürmte, Bizarre, Losgelöste entlassenen Forderungen. Womöglich, und eine solche Vermutung gilt generell, sind solche Koinzidenzen kein Zufall, markieren die Öffnung hier und die Schließung dort Parallelen. Es entsprechen also den bildnerischen „Wirklichkeiten“ in Wien Slogans in Paris wie „Traum ist Wirklichkeit“, „Die Phantasie an die Macht“ oder „Unter dem Pflaster liegt der Strand“. Wirklichkeit, so lässt sich ein Reim darauf machen, existiert nur im Plural, zu jeder Version von Realität, die sich hegemonial vorkommt, gibt es die Perspektiven von unten, von außen, vom Rand und von der Decke, die sie dementieren. Im Museum Liaunig in Kärnten ist gerade eine Retrospektive zu eben der Künstlergruppe „Wirklichkeiten“ zu sehen. Die sechs künstlerischen Positionen, die unter diesem Label firmieren, Wolfgang Herzig, Martha Jungwirth, Kurt Kocherscheidt, Peter Pongratz, Franz Ringel und Robert Zeppel-Sperl, gelten heute nicht gerade als Ausbund an Avantgarde. Und doch waren sie, in ihrem Realismus, so etwas wie die Exponenten des Urbanen. Was Wien seinerzeit sonst zu bieten hatte, die dekorativen Routinen der Abstraktion und vor allem die Idiosynkrasien des Aktionismus, entbehrten aller Qualitäten städtischer Großzügigkeit. Es waren Zwergenaufstände, deren provokativer Effekt sich im provinziellen Vis-à-vis des Sie-oder-Wir erschöpfte. Metropolitane Identität, eine Überzeugungskraft, die aus der Distanz einer souveränen Darstellung kommt, hatten diese Vertreter einer anerkannteren österreichischen Kunst keine. Die „Wirkichkeiten“ in ihrer gelinden Marginalität sind gerade deswegen wieder zu entdecken. Museum Liaunig, Ausstellungsansicht "Wirklichkeiten", Robert Zeppel-Sperl Im Moment hat ja eine Philosophie Konjunktur, die auf den Begriff „Neuer Realismus“ hört, aber dem Singular ihre Absage erteilt. Markus Gabriel ist mit seinem populärwissenschaftlichen Klassiker „Warum es die Welt nicht gibt“ ein prominenter Vertreter dieser Philosophie.Viele Welten, so schreibt er, sind es, aus denen sich zusammen setzt, was unsere Vorstellung formt: Es sind viele Welten, entsprechend sind sie klein, sie sind provisorisch, sie verdanken sich dem Momentanen, Situativen, dem Text und dem Kontext, in dem sie erfasst werden. Eine große Formel, eine Meistererzählung, eine Gelenkt- und Gerichtetheit steht diesen Welten nicht zur Disposition. Dass es vorbei ist mit der Emphase der monokausalen, monolithischen, monomanen, monotonen Erklärung, lässt sich sehr schön an den Berichten ablesen, die die „Wirklichkeiten“-Schau damals, in den späten Sechzigern, begleiteten und beschrieben. Deutlich standen sie in der Tradition jener Textgattung, in der die Avantgarde von der Radikaldynamik, der Unwiderstehlichkeit und Unumgänglichkeit ihrer Positionen, die sich allesamt in Wortkombinationen mit dem Suffix „-ismus“ kleideten, raunte: dem Manifest. Gleichzeitig war den Berichten zu diesen aktuellen „Wirklichkeiten“ eine gewisse Versponnenheit eigen, ein Kreisen um sich und die eigene Befindlichkeit, die sich der Geste des Welterschließens, Welterklärens und Welt-auf-den-Punkt-Bringens nicht mehr so recht öffnete. Auch die Kunst, die unermüdliche Sinnstifterin, hatte sich einzurichten in einer Welt in der Mehrzahl. Die Kunst ist ein Kollektivsingular. Was ihr zu Gebote steht, ist indes ein Pluriversum. In den Jahren um 1968 kam es zur Kenntlichkeit. www.museumliaunig.at
Mehr Texte von Rainer Metzger

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