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Schäumende Schiris

Ein wohltuender Anachronismus Der Mann in Shorts schreitet in Richtung Tor. Sein Schritt ist forsch, seine Haltung korrekt. Über ihm rasen Miniatur-Kameras auf unsichtbaren Seilbahnen. Ein anderes Kameraauge ist auf einem langstieligen Hebel montiert. Er lugt hinter dem Tor hervor. Das gelenkige Periskop bewegt sich aufgeregt in die Richtung des Entschlossenen, schnüffelt an seinen Beinen, beobachtet jeden seiner Schritte. Danach umkreist das technische Insekt aufgebrachte Kläger. Die nervöse Gruppe der Bestraften nimmt unwillig in der Reihe Aufstellung. Endlose 13 Sekunden braucht Bastian Schweinsteiger, um den Freistoß von Halblinks in den Winkel zu setzen. 1:2, die Mainzer sind trostlos, der Schlusspfiff folgt auf den Fuß.

Seinerzeit, im antiken Rom, vermaßen die Auguren das Marsfeld und alle anderen Gegenden der damals bekannten Welt. Sie blickten gegen den Himmel, um aus dem Vogelflug das Schicksal und aus dem Sonnenstand die Richtungen zu ermitteln. Die Priester hielten Stäbe in der Hand, zeichneten magische Linien und metaphysische Kondensstreifen. Als Richter, das war ihre zweite Funktion, waren sie unbestechlich. Nur die Dreistesten unter den Irdischen, wie Gaius Julius Cäsar, erlaubten sich, ihren göttlichen Auftrag durch listigen Hintersinn zu korrumpieren. Anders wäre wohl die Überschreitung des Rubikon vor der Geschichte, der Stadt und dem Erdkreis nicht zu rechtfertigen gewesen. Heute sind Schiedsrichter gelb wie Schutzmänner. Ein Headset verknüpft sie im Namen der FIFA mit der Außenwelt und dem Äther. Trotz technischer Mittel gibt es ein Urvertrauen in das Raumgefühl ihrer Körper. Das Maß sitzt ihnen in den Beinen. 9,15 m beträgt der Abstand, den sie beschreiten. Am Hosenbund tragen sie ein Utensil. Die Richter bücken sich. Die Distanz der Freistoßmauer wird mit einer Schaumzeichnung in den Rasen eingetragen. Die Richter sind unter die Sprayer gegangen. In Deutschland erhält die Dose eine Sonderbewilligung wegen unzulässigem Treibmittel. Ursprünglich war der DFB kritisch. Man möchte sich nicht „mit technischen Hilfsmitteln überfrachten“. Aber nun schäumen die Schiris. Es ist eine Neueinführung, die schon von Beginn an anachronistisch ist. Tatsächlich berechnen Kameras jeden Millimeter auf dem Feld. Die Dauer von Ballbesitz und abgegebenen Pässen ist verfügbar, ebenso der Energieverbrauch der Spieler und ihre gelaufenen Meter. Ein komplexes Video-Monitoring sorgt dafür, dass ein Ball über der Torlinie auch numerisch zählt. Und an weiteren Technologien wird gefeilt, zum Beispiel an einem App, das über Sensoren und am Feldrand platzierte Antennen Beinbewegungen registriert. Die Spieler werden mehr und mehr zu verdrahteten Subalternen, denen wie in der Formel 1 wohl auch bald Entscheidungen während des Spiels abgenommen werden: Tackling ja oder nein, Vertikalball oder Kurzpassspiel, Abseitsfalle oder Pressing. Gerade wegen der durchkalkulierten Vermessung ist der Rasierschaum am grünen Boden hochwillkommen. Er ist die Handzeichnung eines Unparteiischen, augurenhafte Selbstsicherheit. Nicht zuletzt ist er Ermessenssache, fehlerhaft und eine erstaunlich simple Schätzung.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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Ihre Meinung

1 Posting in diesem Forum
äusserst sympathisch
bitteichweisswas | 10.02.2015 06:12 | antworten
wenn ein (Kunst-) Kurator und zukünftiger Museumsdirektor auch interdisziplinär-philosophierend daherkommt ... :-)

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