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Artissima 2014: Zu groß für die Zukunft

"Back to the Future" mit "historischen" Positionen ist das Markenzeichen der Turiner Artissima. So mancher Aussteller wie vor allem Sammler würde sich wohl eher das Gegenteil wünschen - zurück in die Vergangenheit, als man Kunst noch in bar bezhlen konnte und als noch nicht hinter jedem Interessenten ein Finanzbeamter stand. Die vielleicht unfreiwillige, aber passende Verkörperung für die kollektive Verfasstheit Italiens hat Nico Vascellari gefunden: Wie gelähmt auf das Starren, was auf einen zukommt und möglichst nicht daran denken, was einen von hinten überrollen könnte. Am Eröffnungsabend der Artissima in Turin nutzte der junge italienische Künstler eine Lücke im dichten Feierabendverkehr an der Tunnelmündung der Stadtautobahn unter dem Messegelände, um auf die Mittelleitplanke aus Beton aufzusitzen und dort regungslos eine gefühlte Ewigkeit zu verharren. Die riskante Aktion war Teil der neuen Sektion Per4m, die ansonsten in der Halle stattfindet, hoffentlich in dieser Form nicht nur zum ersten, sondern auch zum letzten Mal. Nicht ganz so stark wie in den letzten Jahren ist das Erfolgsformat Back to the Future. Das könnte daran liegen, dass sowohl Frieze Masters (und demnächst Frieze New York) als auch Art Basel auf diesen Zug aufgesprungen sind und ähnliches anbieten. Daher ist nicht jede Präsentation so museumsreif, wie man das von vorherigen Ausgaben gewöhnt ist. Manche Position aus der zweiten Reihe liefert im Kontext der sie umgebenden jungen Kunst die Rechtfertigung für die damalige Bewertung. Andererseits sind unter den Altvorderen noch echte Entdeckungen zu machen: Grazia Varisco ist die letzte Überlebende der Gruppo T, einem der italienischen Zero-Zweige. Schon Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre schuf sie nicht nur kinetische Objekte, sondern auch partizipative Werke, wie eine schwarze Metalloberfläche, auf der der Betrachter/Teilnehmer aufgeschnittene Tischtennisbälle mittels Magneten selbst arrangieren kann. Im schon seit Jahren heißlaufenden Markt für italienische Nachkriegskunst steht Varisco noch ganz am Anfang ihrer späten Marktkarriere. Noch vor drei oder fünf Jahren hätten ihre Werke nicht einmal 5.000 Euro gekostet, erzählt ihr Galerist Gianfranco Composti von Ca' di Fra' aus Mailand. Mittlerweile kann er 30.000 bis 70.000 Euro verlangen, ein Bruchteil der Preise ihrer berühmten Mitstreiter. Die Entsprechung zur historischen Sektion will Present Future sein, eine kompakte Präsentation 20 junger Künstler. Möglicherweise ist es ein Trend, oder auch nur den Vorlieben des Kuratorenteams entsprechend: Es ist auffallend, wie sehr diese jungen Künstler gesellschaftlichen Fragen und der Lebenswirklichkeit mit künstlerischen Mitteln zu Leibe rücken. Ein Grund hierfür könnte sein, dass die Hälfte der Positionen eben nicht aus dem westlich dominierten Diskurs stammt, sondern aus Asien, Lateinamerika oder Osteuropa. Der frische Gesamteindruck setzt sich bei den 19 New Entries durch, wo wiederum je drei Galerien aus Lateinamerika und Osteuropa vertreten sind. Möglicherweise rücken gerade diese Regionen zur Zeit in den Fokus von Sammlern und Kuratoren, weil es in ihren Szenen noch weniger marktorientiert zugeht. Außerhalb der kuratierten Bereiche ist einiges von dem zu sehen, was der Kult-Kritiker Jerry Saltz unlängst "Crapstraction" nannte. Ob Turin für diese Art der gehypeten Malerei ein geeigneter Marktplatz ist, kann allerdings bezweifelt werden. Denn hier wird traditionell weniger mit schnell mit den Ohren als vielmehr mit den Augen gekauft. Und dabei lässt man sich genauso traditionell Zeit. Das war wohl auch ein Anlass für die Innsbrucker/Wiener Galerie Thoman, erstmals an der Artissima teilzunehmen. Elisabeth Thoman erzählt, dass sie es Leid gewesen seien, ständig Werke aus dem Bestand zu verkaufen, weil das Publikum der Großmessen bevorzugt bekannte Namen nachfrage. In Turin habe sie hingegen tatsächlich genuines Interesse an Auseinandersetzung erlebt. Der Vorteil der Artissima ist die Verlässlichkeit der italienischen Sammler. "Die Italiener sind meine treuesten Kunden", erklärt Luise Nagel von der Produzentengalerie aus Hamburg/Berlin. Ähnlich, wie man es den Belgiern nachsagt, wären die Italiener keine Impulskäufer, von denen man hinterher nie wieder etwas höre, sondern folgten den Künstlern und ihrer Galerie. Die italienische Dauerkrise geht jedoch nicht spurlos an der Messe vorüber. Die Kunstsammler seien zwar noch da, erklärt Kurt Kladler von der Wiener Galerie Charim. Was fehle, seien die Kunstkäufer, die nicht systematisch sammeln, sondern einfach von Zeit zu Zeit ein wenig Kunst kaufen. Daher kennt auch die Duldsamkeit des diskursorientiertesten Galeristen Grenzen. Jury-Mitglied Gregor Podnar aus Berlin/Ljubljana sieht die Messe in leichter Schieflage. Sie sei einfach zu groß, findet er. Die Kaufkraft des Marktplatzes reiche nicht aus für die 194 Aussteller. Artissima müsse dem Beispiel der Frieze folgen und sich verkleinern, wolle sie in der Liga der führenden Messen mitspielen. Dann hätte sie jedoch sehr wohl das Zeug dazu.
Mehr Texte von Stefan Kobel

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Artissima 2014
07 - 09.11.2014

Oval - Lingotto Fiere
10126 Turin, Via Nizza 294
Email: info@artissima.it
http://www.artissima.it
Öffnungszeiten: täglich 11 - 19 h


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