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Mira Schendel: Welten in greifbarer Nähe

Kunst aus Brasilien ist 2013 topaktuell. Kein Wunder also, dass auf der Frieze London mehrere Galerien aus diesem südamerikanischen Land gastierten und zur Eröffnung der Kunstmesse die Kunstwelt den ersten internationalen Überblick des Schaffens von Mira Schendel in der Tate Modern feierte. Obwohl die 1988 verstorbene Künstlerin keine gebürtige Brasilianerin war, sondern eine zur Zeit des Faschismus in Mailand als Katholikin erzogene schweizer Emigrantin mit jüdischen Hintergrund, gehört sie neben Lygia Clark und Hélio Oiticica zu jenen Pionieren, die Sprache der Moderne in Brasilien aufs neue visionär erfunden haben. Die 250 Werke umfassende Ausstellung zeigt in 14 Räumen installative Skulpturen, Zeichnungen und Bilder der Künstlerin, darunter auch bisher nie gesehene Arbeiten und einige faszinierende Rekonstruktionen. Eine davon ist die raumgreifende Installation Still Waves of Probability, die 1969 auf der Biennale in Sao Paulo ihre Premiere hatte. Diese Biennale wurde von vielen Künstlern als Protest gegen die Militärdiktatur boykottiert. Die Arbeit bestehend aus einer undurchschaubarer Menge semitransparenter dünner Fasern, die in Form eines Kubus von der Decke fließen, wird begleitet von einem Text aus dem Altem Testament. Für Schendel evoziert die hier angedeutete Sichtbarkeit des Unsichtbaren die Analogie zur Lebenserfahrung mit den für das Auge unsichtbaren physikalischen oder spirituellen Prozessen. Mira Schendel war eine lebhafte Intellektuelle mit multikulturellem Hintergrund. Zuerst studierte sie Philosophie. Erst in den 1950er Jahren begann sie konstruktiv-abstrakt zu malen. Ihr Interesse galt der Religion, Literatur, Poesie, chinesischen Kalligraphie, der Linguistik und Mathematik sowie Spieltheorien. Dauerhaft unterhielt sie enge Kontakte mit einigen Wissenschaftlern, Schriftstellern und Intellektuellen wie z.B. Vilém Flusser, Max Bense oder Umberto Eco. Allmählich distanzierte sie sich in ihren Bildern von den Zwängen der zweidimensionalen Oberfläche/Fläche und seit 1964 experimentierte sie mit der Textur von Materialien wie die des japanischen Reispapiers mit seiner Transmission und Lichtdurchlässigkeit. Sie malte oder zeichnete auf diesem für sie neuentdeckten Untergrund Symbole, Linien, Zahlen und vor allem schwarze Letraset-Buchstaben in abwechslungsreichen, oft humorvollen bis eigensinnigen wortlosen, zwischen Konkreter Poesie und Zen angesiedelten Konstellationen. Die Ausstellung in London wirkt in ihren Zentralräumen durch die in der Luft schwebenden und ubiquitär zerstreuten Werken, genannt Graphic Objects oder Little Nothings - fragile textile Skulpturen und mit Acryl überzogene Papierstreifen, die sich beim Vorbeigehen leicht bewegen - effektvoll und mobil. Im Laufe der späteren 1960ern und 1970ern wird Schendels Kunst durch neue Ideen der Übertragung und durch die weiterhin unendliche spiralförmige Verkettung von graphischen Elementen und Einzelbuchstaben samt ihrer offenen Bedeutung weitergetrieben. Die Regeln westlicher Harmonie unterbrechen östliche Asymmetrien, um nicht nur komplexere Informationen zumeist in Serien zu vermitteln, sondern auch die Zusammenhänge mit ihrer eigenen Existenz aufzuweisen. Einige ihrer bekannten Monotypien, die um das Motiv der Leere, des Seins und der Nichtigkeit kreisen, Begriffe in verschiedenen Sprachen phänomenologisch d.h. ohne Werturteile einschließen, beziehen sich, bewusst in deutscher Sprache gewählt, auf die Sozialität der Umwelt, Mitwelt und Eigenwelt. In ihrer Serialität knüpfen ihre Monotypien an die Musik des Minimalisten C.H. Stockhausen an. In der Reihe der Zeichnungen Homage to God-Father of the West (1975) verwendete Schendel wiederum Spraytechnik, um Fragmente aus dem Alten Testament beschleunigt zu übertragen. Die Transparenz Arbeiten erlaubt dem Betrachter eine Vielzahl von Perspektiven und bewirkt, dass die Arbeiten von Mira Schendel nicht wie moderne technische Bilder halluzinatorisch konstruiert sind. Schendels Kunst behält ihre altertümliche, magische Bedeutung im Sinne von Flusser, indem sie das innere Verhältnis zwischen Form und Schrift, Leere und Sinn, Alt und Neu nach einer unhörbaren Melodie imaginierend anpasst und wiederholt.
Mehr Texte von Goschka Gawlik

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Mira Schendel
25.09.2013 - 19.01.2014

Tate Modern
SE1 9TG London, Bankside
Tel: +44 20 7887 8000
http://www.tate.org.uk/modern/default.htm
Öffnungszeiten: Sunday to Thursday, 10.00-18.00 (galleries open at 10.15); Friday and Saturday, 10.00-22.00 (galleries open at 10.15); Last admission into exhibitions 17.15 (Fri and Sat 21.15);Closed 24, 25, 26 Decem


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