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Marseille Kulturhauptstadt 2013: Der Beginn einer Metamorphose

In nur wenig mehr als drei Stunden ist Marseille von Paris aus mit dem TGV zu erreichen, Frankreichs zweitgrößte Stadt, die in den letzten Jahrzehnten in der nationalen Presse so gut wie nur noch über Negativschlagzeilen Erwähnung fand: Kleinkriminalität und Drogenhandel, Bluttaten mafiöser Clans, eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit vor allem in den benachteiligten nördlichen Arrondissements, katastrophale Haftbedingungen im Gefängnis Les Baumettes, Xenophobie und wiederholt imposante Wahlerfolge des Front National. Um dem entgegenzuwirken und die finanziell völlig ausgeblutete Kommune zu revitalisieren, wurden seit den 1990er-Jahren im Zuge des gigantischen Stadterneuerungsprojekts Euroméditerranée beträchtliche staatliche Mittel in die Marseiller Wirtschaft gepumpt. Technologie, Transport, Tourismus, Handel und Freizeit gelten gleichermaßen als Schlüsselbereiche dieser urbanistischen Operation, im Zuge derer man bis 2020 den öffentlichen Raum für die Bevölkerung zurückgewinnen möchte. Bislang nämlich war die auch heute noch wichtigste französische Hafenstadt am Mittelmeer ihres maritimen Prospekts beraubt; eine vielspurige Schnellstraße schnitt Marseille vom Vieux Port, dem Alten Hafen, ab. Diese ambitionierten langfristigen Pläne sowie das Gesamtkonzept für ein außergewöhnliches Jahr überzeugten den EU-Ministerrat, Marseille den Titel Europäische Kulturhauptstadt 2013 zu verleihen. (Neben dem slowakischen Kosice, da infolge der Ostöffnung seit 2010 je eine weitere Stadt aus diesem Raum parallel zum Zug kommen darf.) Um Synergieeffekte zu bewirken, wurde mit Marseille zugleich die Region der Provence in dieses Programm integriert. Insgesamt 73 Kommunen im Städtedreieck Marseille – Arles – Aix bemühen sich somit gemeinsam, rund 400 Veranstaltungen auszurichten. Erwiesenermaßen stimulieren Aktivitäten im Rahmen eines solchen Jahres das City-Marketing, dynamisieren das kulturelle Leben und bieten gute Gelegenheit, den Stadtraum umzugestalten und eine verstärkte und positive Medienpräsenz zu erzielen. Seit 1985 das Kulturhauptstadt-Konzept von Jack Lang und Mélina Mercouri ins Leben gerufen wurde, um die zentrale Rolle des Urbanen im Rahmen der europäischen Kultur zu betonen, konnten mittlerweile über vierzig Städte von diesem Label und dessen Umwegrentabilitäten profitieren. Frankreichs älteste Stadt Als von griechischen Seefahrern gegründete Handelsniederlassung an einer Mittelmeerbucht blickt Marseille als einstiges „Phokäa“, später „Massalia“, auf eine 2.600-jährige Geschichte. Ein Großteil der historischen Altstadt allerdings wurde 1943 von Truppen der Wehrmacht und der Waffen-SS für immer zerstört. Und spätestens seit dem Ende der französischen Wirtschaftswunderjahre, der von 1945-75 anhaltenden „trente glorieuses“, begann der Abstieg der einst so blühenden Siedlung. Als „Tor zum Mittelmeer“ ist Marseille wesentlich durch Einwanderer geprägt, vor allem illegale Immigranten aus Nordafrika prägten nachhaltig das urbane Bild. Die im Zuge dieser sozialen Umschichtungsprozesse entstandene Kluft zwischen den verarmten Vierteln im Norden und im Zentrum zum einen und den reichen Arrondissements im Südosten zum anderen suchten die Stadtväter seit den 1990er-Jahren mit großen Anstrengungen zu nivellieren. Stillgelegte Industriebauten wurden für kulturelle Zwecke umgewidmet, vor allem die von Büros dominierte Stadtmitte begann man solcherart zu reaktivieren. Bislang besaß Marseille nämlich kein einziges Museum von größerer Anziehungskraft; Ausstellungen lockten in Summe nicht mehr als 250.000 bis 300.000 BesucherInnen an, d. h. weniger als ein einziger Blockbuster in Paris. Und vor allem die Transformation der „maritimen Fassade“ über architektonische Signalbauten geht als Idee auf die damaligen Initiativen zurück. Elend und Euphorie Nun, nach jahrzehntelanger Lethargie, wird Marseille tatsächlich von Enthusiasmus und Elan getragen. Mehr denn anderswo setzt man hier große Hoffnungen in die Kultur als Standortfaktor. „Marseille doit gagner, car c’est elle qui en a le plus besoin“, hieß es entsprechend im Zuge der Kandidatur. Denn anders als in Bordeaux, Lyon oder Lille gibt es hier keine Bourgeoisie; Erfolgreiche und Ambitionierte verlassen so schnell wie möglich die Stadt, deren EinwohnerInnen zur Hälfte nicht einkommensteuerpflichtig sind. Selbst im heurigen Festivaljahr, das viele durchaus in Euphorie versetzt, ist Armut offen ausgestellt. Die einst als Prachtstraße geltende Canebière im Zentrum Marseilles bietet durch verfallende oder vernachlässigte Fassaden ein nur noch trauriges Bild. Immerhin aber gleitet seit Jahresbeginn eine futuristisch anmutende Tram durch die Stadt, die bislang nur bescheidene zwei Metrolinien aufzuweisen hatte. Die mithin radikalste Veränderung aber betrifft den Bereich des Alten Hafens: Drei emblematische Bauten entstanden dort, nachdem in den letzten Jahren Dutzende Baustellen und deren Kräne das Bild des Hafengeländes bestimmten. Mittelfristig will man den gesamten Uferbereich entlang der Quais vom Autoverkehr entlasten. Um das alte Hafenbecken, das in seiner urbanen Funktion großen Plätzen anderer europäischer Städte entspricht, riecht es schon jetzt weder nach Abgasen noch nach Tang oder Fisch. Ja, fast etwas zu aseptisch wirt die weitläufig angelegte Fußgängerzone um das rektanguläre Becken mit den schunkelnden Yachten. Gemeinsam mit einem Landschaftsgestalter entschied Sir Norman Foster sich dafür, den mineralischen Charakter des Ortes zu bewahren. Der folglich mit Platten aus hellem Granit ausgelegte Hafenbereich entbehrt jeglicher behübschender und begrünender Elemente; erst Richtung Stadt mündet er in einen im Werden begriffenen Park. Lediglich ein überdimensionaler Spiegel ist an der Schmalseite des Beckens über den Häuptern der Flanierenden installiert – auf dass diese sich der neu gewonnenen immensen Qualitäten des Ortes versichern? Drei emblematische Bauten Eigentlicher Blickfang und Hauptattraktion des Kulturhauptstadtjahrs ist aber fraglos das im Juni eröffnete MuCEM, das Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée. Errichtet als ein den gesellschaftlichen Fragen des Mittelmeerraums gewidmetes Haus soll es künftig als Vermittlerin zwischen den Zivilisationen und Disziplinen fungieren. Im Zuge der kulturellen Dezentralisierung ehemaliger Pariser Museen tritt es die Nachfolge des dortigen Ethnologiemuseums an, das schon lange an öffentlichem Desinteresse litt. Die architektonische Dreiteilung der Standorte des MuCEM ermöglicht nicht nur eine sinnvolle Trennung unterschiedlicher institutioneller Funktionen. Vor allem erlaubt diese Gliederung, das Museum gut in der Stadt zu verankern und zumindest ihr meerseitiges Bild entscheidend zu bestimmen: Während der konservatorische Sammlungsbereich unterirdisch angelegt ist, erlaubte die Adaptierung des Fort Saint-Jean, einer mittelalterlichen Zitadelle, eine „Passerelle“ in luftiger Höhe über die hässliche Schnellstraße hinweg zum eigentlichen Museumsneubau zu legen. Allen PassantInnen frei zugänglich, ist allein dieser Steg aus Gussbeton zusammen mit dem Ausblick, der sich von ihm bietet, eine Attraktion für sich. Das nach der ehemaligen Hafenmole „J4“ genannte Herzstück des MuCEM, ein massiver, anthrazitfarbener Quader, wirkt von weitem wie eine sich aus dem Wasser erhebende Kasbah. Von ihm aus, vor allem von der großen Wendeltreppe und der Dachterrasse, genießt man tatsächlich eine exzeptionelle Sicht auf die See. Für die zugleich übermächtig wie fragil wirkende korallenartige Struktur der Außenhaut des Baus aus ajouriertem Beton erhielt Rudy Ricciotti als Anhänger eines konstruktivistischen Ansatzes einhellig und überschwänglich Lob. Im Kollektiv mit etlichen Künstler-Ingenieuren und -Maurern aufs je Neue technische Möglichkeiten zu entwickeln, gilt mittlerweile als Markenzeichen des in der Region ansässigen Architekten. (Zuletzt hatte er das zeltartig geschwungene Dach aus kolorierten Metallgliedern des 2012 neu eröffneten Département des Arts de l’Islam im Musée du Louvre konzipiert). In seiner mächtigen Präsenz ähnelt das MuCEM sowohl einem Meeresfelsen, wie es über die ornamental durchbrochenen Fassaden zugleich den Eindruck eines Moucharabie, eines filigranen orientalischen Fenstergitters erweckt. Das Dach und die beiden gegenüber der Sonne am meisten exponierten, ebenfalls in dieser Art gestalteten Seitenflächen gewähren im Inneren in der Tat gut gefiltertes Licht. Durch die dunklen tragenden Pfosten und Pfähle, die sich wie ein unorthodoxes Mikadospiel ausnehmen, wird die Helligkeit zusätzlich gedimmt. Hinter den beiden anderen, als Glas-Metallwand angelegten Fassaden sind dagegen vorwiegend Büroräume situiert. Die Programmation des Hauses ist dezidiert dem Transdisziplinären verschrieben. Zwei große Räume sind für Wechselausstellungen reserviert. Die aktuell zu sehende Eröffnungsausstellung „Le Noir et le Bleu“ versteht sich als Reflexion über Repräsentationen des Mediterranen, wobei das Schwarz im Titel für die durchaus dunklen, kriminellen Seiten steht. Daneben befasst sich die ethnografisch-soziologisch ausgerichtete Schau „Au bazar du genre, masculin/féminin“ in amüsanter Art mit Gender-Definitionen im Mittelmeerraum. Die als dritte Schau für drei Jahre angelegte Galerie de la Méditerranée versteht sich als anthropologischer Parcours, der sich mit fundamentalen historischen Themen auseinandersetzt: Erfindung der Landwirtschaft, Monotheismen, Geburt der Demokratie, große Entdeckungen. Die erwähnte, aus Paris transferierte ethnografische Sammlung des Hauses ist einerseits reichhaltig und zugleich dürftig; anders als die jüngst aktivierte Dépendance des Louvre in Lens (http://www.artmagazine.cc/content65918.html) kann sie mit keinerlei Hauptwerken aufwarten. Konzentriert auf das rurale Leben im Frankreich der Nachkriegsjahre gleicht sie mit ihrem Bestand an normannischen Bauernkästen, traditionellen Trachten und Spielzeugformen Volkskundemuseen im klassischen Sinn, in dem die industrielle Entwicklung ausgeblendet blieb. Dennoch wird man versuchen, damit kuratorisch kreativ zu arbeiten; immerhin erlaubt ein großzügiges Ankaufsbudget gezielte Komplettierungen. Wechselausstellungen dagegen bleiben auch künftig dem Zeitgenössischen gewidmet. In der der Stadt zugewandten Glasfassade des MuCEM spiegelt sich der zweite als Flaggschiff errichtete Kulturbau, die nur wenige Meter entfernte Villa Méditerranée. In der Profilansicht wirkt sie wie ein gigantischer Sprungturm ins Wasser. Die eigenwillige Form des Gebäudes, dessen Obergeschoß kühne vierzig Meter vorkragt, verdankt sich der ursprünglichen Idee, das Meer ins Innere des Hauses zu leiten. Letztlich konzipierte Stefano Boeri jedoch einen künstlichen Wasserspiegel, unter dem die unsichtbare Basis des Hauses liegt. Vor allem als Ort der Begegnung soll es dienen, offen für Konferenzen, Kolloquien und Netzwerke aller Art. Agora und Auditorium befinden sich quasi unterseeisch, während gleichsam auf Levitationsniveau, auf Ebene des Bassins, das Ausstellungsplateau situiert ist. Der dortige permanente Parcours, eine spielerisch-pädagogische Immersion in Bilder, sucht den Mittelmeerraum als Synonym für Mobilität zu vermitteln. Vom japanischen Stararchitekten Kengo Kuma stammt das dritte ausstellungsbezogene Bauvorhaben für den Fonds Régional d’Art Contemporain Provence – Alpes – Côte d’Azur, kurz FRAC PACA genannt, der ein ambitioniertes zeitgenössisches Programm verfolgt. Auf einer schwierigen, weil kleinen, dreieckigen Parzelle errichtet, mutet das Haus in seiner Schmalansicht wie eine Speiseröhre an und hat sich entsprechend bereits den Spitznamen „Oesophag“ eingefangen. Innen eine Vielzahl von Ebenen unterschiedlicher Flächen umfassend, in denen gewollt Rohes dominiert, sollte die mit Glastafeln verblendete Außenhaut dagegen wie ein leichter pixeliger Schirm wirken. Die technisch dafür nötige Metallstruktur machte den erhofften Effekt jedoch weitgehend zunichte. So wie überhaupt die Bugform, die Bauwerke in Nähe eines Quais meist glauben haben zu müssen, nicht wirklich inspiriert wirkt. Alternative Stadtrundgänge Auf all die einzelnen Veranstaltungen und Off-Programmationen einzugehen, ist hier ebenso wenig der Ort, wie die Nicht-Einbeziehung der Kultur des Rap und andere Versäumnisse aufzuzählen. Als geglücktes Beispiel alternativer Kulturvermittlung seien jedoch die „Balades Urbaines Capitales“ erwähnt, sechs Rundgänge durch unterschiedliche Gegenden der Stadt und mitunter auch durch das terrain vague rundum: Dezidiert nach dem erfolgreichen Vorbild der „Kulturlotsinnen“ im Linzer Kulturhauptstadtjahr 2009 konzipiert, wo zwölf Frauen mit Migrationshintergrund über unkonventionelle Stadttouren Einblicke in ihr Lebensumfeld boten (und dafür den Österreichischen Staatspreis für Erwachsenenbildung erhielten), beschäftigten sich in Marseille sechs Duos mit der spezifischen Geschichte ihres Quartiers. In Kooperation mit den jeweiligen Sozialzentren vor Ort fanden dafür Personen in prekärer Situation temporäre Anstellung, um lokale Sehenswürdigkeiten und Naturschauplätze, um Industrieanlagen und -brachen wie ehemalige Schiffswerften oder Seifenfabriken zu erkunden und daraus eigene Erzählungen zu entwickeln. Um ihr Umfeld für sich und andere aufzuwerten, sich über dessen Reichtum mit ihm zu identifizieren, und seien es selbst die übel beleumundeten Quartiers du Nord. Eben darauf, auf der Einbindung von Personen, Schulen, Initiativen vor Ort muss über 2013 hinaus auf jeden Fall das Hauptaugenmerk liegen, um eine Transformation der Stadt auch von innen in Gang zu bringen. Inwiefern sich die idealistischen Ambitionen angesichts der profanen Tatsachen eingangs skizzierter struktureller Probleme wirklich durchsetzen lassen, bleibt freilich abzuwarten. Anders aber als bei Sportgroßveranstaltungen, die die Kommunen meist über Jahrzehnte in Schulden stürzen lassen, wirken Kunst und Kultur im Rahmen langfristig angelegter Stadterneuerungskonzepte doch so gut wie immer als recht verlässlicher Katalysator. Marseille Provence 2013 www.mp2013.fr Mehr Texte von Ulrike Matzer

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Marseille Kulturhauptstadt 2013
01.06.2013 - 31.12.2014

MuCEM Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée
13002 Marseille, 1 esplanade du J4
Tel: +33 (0)4 84 35 13 13
Email: reservation@mucem.org
http://www.mucem.org/en/home-page
Öffnungszeiten: täglich (außer Dienstag) 11:00 bis 19:00h (Sommer) bzw. 11:00 bis 18:00 (Winter)


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