Werbung
,

55. Biennale Venedig - zentraler Pavillon Giardini: Flanieren durch die Retro-Archive

Obwohl etwas klarer, unmittelbarer und transparenter umgesetzt als in den weitläufigen Hallen des Arsenale kippt der enorme Anspruch des Kurators Massimiliano Gioni für dessen große thematische Ausstellung dieser Venedig-Biennale auch im Padiglione Centrale in den Giardini in ein ziemlich verschwommenes Unternehmen. Anstatt Perspektiven zu formulieren, begnügte sich Gioni damit, ein endlos erweiterbares Domino prominenter oder zumindest diskussionswürdiger Werke und Werkgruppen der zeitgenössischen Kunst und darüber hinaus auszulegen. Nur allzu schnell geht der rote Faden verloren. Zu viel wird im "Palazzo Enzyclopedico" Gionis über einen Leisten geschlagen und als hehre Kunst zusammengefasst. Der thematisierte Hang zum Enzyklopädischen bleibt hier, im Herzen des ursprünglichen Biennale-Geländes, von wo aus sich diskursive Leitmotive mit Aussagen zur Gegenwart entfalten könnten, im Gestus engagierter Akkumulation von Material stecken. Sicher, man begegnet etwa Sarah Lucas, es kommen wieder einmal Fischli und Weiss vor, es sind die eigentümlich fantastischen Werke des Jean-Frédéric Schnyder zu sehen. Ein Raum widmet sich der Maria Lassnig, die für ihr Lebenswerk mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet worden ist. Und dann auch wieder einmal Richard Serra. Und: Carl Andre. Weil es Massimiliano Gioni von der Fondazione Nicola Trussardi Mailand, der außerdem am New Museum in New York Ausstellungsverantwortung hat, jedoch um eine visuelle Enzyklopädie des Wissens und der Imaginationen von Welt geht, kombiniert und kontrastiert er zeitgenössische Kunst mit historischen Artefakten, Fundstücken und individuellen Kosmologien, die nicht klar kategorisierbar sind. Deshalb öffnet er als Auftakt etwa das "Rote Buch" des Schweizer Tiefenpsychologen C. G. Jung, der in einer Art Tagebuch großformatig und farbenprächtig Träume, Visionen und Fantasien in handgeschriebener und gemalter Form festhielt. Oder er breitet die etwas fragwürdigen künstlerischen Werke des Anthroposophen Rudolf Steiner über die Wände eines ganzen Saales aus, wo zugleich das Œuvre des Walter Pichler – ziemlich ungeschickt präsentiert – auf ein Paar Zitate aus dessen Kosmos zusammenschrumpft. Darüber hinaus sind entlang der Grenzbereiche dieses ausfransenden Projekts etwa Gesteine aus der Sammlung des Surrealisten Roger Caillois zu sehen, den mögliche Parallelitäten zwischen mineralogischen Formen und den Ausdrucksformen menschlichen Vorstellungen beschäftigten. Aus den 1930er Jahren wiederum und aus einem anderen Erdteil: zeichnerische Werke aus Melanesien mit Kampf- und Tanzszenarien. Dass in einer solchen Zusammenschau beispielsweise auch Näharbeiten der großen rumänischen Künstlerin und Performerin Geta Br?tescu, für die – bedingt durch die repressive politische Situation in ihrem Heimatland – das eigene Atelier lange Zeit Hauptaktionsort war, gezeigt werden, erscheint sehr logisch. Allerdings wirkt deren Präsentation in einer hochfrequentierten Durchgangssituation ziemlich beiläufig. Auch aus dem Raum, mit Miniaturarchitekturmodellgebäuden des Wiener Versicherungsangestellten Peter Fritz, die 1993 von Oliver Croy und Oliver Elser bei einem Altwarenhändler entdeckt worden sind, hätte man mehr herausholen können. (Eine Leihgabe des Wien-Museum übrigens.) Durch ihre Verwandtschaft zu realer kleinstädtischer Architektur in Österreich wirken die Kleinhäuser des Peter Fritz wie die phantasievolle Affirmation diverser Häuselbauer-Träume. Ganz erschließt sich der Zusammenhang zu KP Brehmer nicht; schon eher zu den Architekturzeichnungen des Achilles Rizzoli (*1896!). Allerdings wirkt die Zusammenschau in diesem Raum dann doch eher beliebig assoziativ. Die Grundidee Massimiliano Gionis, über die Demarkationslinien der abgesicherten bildenden Kunst hinauszublicken, ist zudem nicht besonders neu. Abgesehen von der Weg weisenden Arbeit Harald Szeemanns, der in zahlreichen Ausstellungen in forschenden Bewegungen individuelle Wege des Utopischen und der Befreiung erkundete, hat das Konzept, andere Zeichensysteme als jene der Kunst, unmittelbar zum Sprechen zu bringen, spätestens seit Carolyn Christov-Bakargievs Documenta 13, seit Entdeckung der art brut oder des Werks von Adolf Wölfli immer wieder Konjunktur. Allerdings hat Carolyn Christov-Bakargiev dieses Thema auf der letzten Documenta meisterinnenhaft durchgespielt und die soziale und politische und somit die emanzipatorische Dimension, die solchen Erweiterungen in der Kunst zumeist inhärent ist, einbezogen. Natürlich bietet Venedig nicht die Möglichkeit zu derart extensiven wissenschaftlichen Vorarbeiten. Trotzdem wäre die Herausforderung in der Entwicklung einer neuen Perspektive, neuer Interpretationen und natürlich der Präzisierung im Detail gelegen. Massimiliano Gioni hat sie nicht angenommen. Zudem benötigt der ehemalige italienische Pavillon in den Giardini, den Harald Szeemann 1999 in einen zentralen Pavillon für internationale Kunst transformierte, längst neue Schubkraft. Andernfalls entstehen bald Ausstellungen, die unter jeweils neuen Headlines eine ähnliche Zusammenschau bringen, weil die Biennale wegen ihres Eventcharakters ohnehin zum Selbstläufer wird. Ihre ursprüngliche Idee aber, Diagnosen zur Zeit zu formulieren, geht unter. Die Welt bloß als Lexikon auszubreiten, bleibt eben retrospektiv. Wer sich darin verliert, mag über Details fasziniert sein. Diskurs entsteht daraus keiner. Wie Debatten einmal in Gang gesetzt wurden, lässt sich ironischerweise in der Fondazione Prada – ebenfalls jetzt in Venedig – nachvollziehen. Dort wird gerade die frühe Arbeit des großen Harald Szeemann in Erinnerung gerufen.
Mehr Texte von Roland Schöny

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

55. Biennale Venedig - zentraler Pavillon Giardini
01.06 - 24.11.2013

Österreichischer Pavillon - La Biennale di Venezia
30122 Venezia, Giardini della Biennale
https://www.biennalekneblscheirl.at
Öffnungszeiten: täglich 11 - 19 h, Fr, Sa bis 20 h,
Montag geschlossen außer 25/07, 15/08, 5/09, 19/09, 31/10, 21/11


Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: