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Sowjetmoderne 1955 – 1991: Unbekannte Geschichten: Regionale Aufbrüche – translokale Expeditionen

Das Gebäude des Ministeriums für Straßenbau in Georgiens Hauptstadt Tiflis zählt zu den faszinierendsten Ikonen progressiver Sowjetarchitektur. An einem Abhang gelegen, wirken dessen einzelne Elemente wie locker übereinander liegende Schachteln. Luftig und experimentell angelegt steht das 1974 unter der Leitung des Architekten Giorgi Tschachawa realisierte Bauwerk beispielhaft für die Qualität einer Vielzahl öffentlicher Bauten in den ehemaligen Sowjetrepubliken außerhalb Russlands. Freilich blieben solche skulpturalen Konzepte in den Ländern der UdSSR singuläre Erscheinungen. Die Besonderheiten individuell fortschrittlichen Bauens in der poststalinistischen Ära dürften bis dato allerdings kaum aufgearbeitet worden sein. Allein dies macht den sensationellen Charakter des Projekts ''Sowjetmoderne'' im Az W aus. In internationalen Fachkreisen existierte es schon jahrelang als Gerücht, weil es aus Rudimenten von Recherchen unter dem Label ''Lokale Moderne'' um Georg Schöllhammer, Klaus Ronneberger und anderen weiterentwickelt worden ist. Zustande kam es aber erst durch mehrjährige Forschungen von Katharina Ritter, Ekaterina Shapiro-Obermair und Alexandra Wachter in Kooperation mit dem Staatlichen A. W. Schtschussew-Museum für Architektur in Moskau und zahlreichen ProjektpartnerInnen und Institutionen in den fokussierten Ländern. Ergebnis ist nun eine spannende, farbenreiche Expedition durch die baltischen Staaten über Weißrussland und die Ukraine in den Kaukasus nach Armenien und Georgien bis nach Kasachstan, Kirgistan oder Turkmenistan im Gebiet Zentralasiens. Die Ausstellung zeigt den Pluralismus der Architekturen seit den Prozessen der Liberalisierung durch Nikita Chruschtschow in den 1950er Jahren. Der später folgende Verfall der rigiden Ordnung unter Leonid Breschnew ließ sichtlich die Zunahme ästhetischer Freizügigkeiten zu. Es begannen sich zunehmend eigenständige Positionen der Architektur gegen den bauideologischen Moskauer Zentralismus durchzusetzen. Bemerkbar ist auch die Verbreiterung des internationalen Dialogs mit der Moderne. So erinnert etwa die Schalenarchitektur der Verabschiedungshallen in Kiew von Milezkyi, Melnytschenko und Rybatschuk an Jorn Utzons Opernhaus in Sydney. Als ihre Hauptthese jedoch dokumentiert die Ausstellung die sukzessive Integration lokaler Idiome; etwa im Wohnbau und anderen kommunalen Anlagen wie Kindergarten oder Sozialzentrum in Duschanbe in Tadschikistan. Zur Gestaltung der Fassaden wurde hier der sogenannte tadschikische Rahmen als übergreifendes formales Prinzip eingebracht. Generell herausgearbeitet wird, dass Individualität tendenziell abseits des Wohnbaus, also abseits des Alltagslebens möglich war. Konzeptuell interessant sind daher oft Veranstaltungshallen, Theater und Zirkusgebäude. Souverän gelingt es dennoch, Klischeevorstellungen von einem durchgängigen, stereotypen technokratischen Funktionalismus aufzubrechen. Dies betrifft in Teilen auch die Stadtplanung, sofern sich dies aus dem Bildmaterial ableiten lässt. Bemerkenswert ist aber, wie nivellierend die zum Großteil über Schautafeln präsentierte Ausstellung selbst erscheint. Phasenweise wirkt sie so pragmatisch gestaltet wie ein in den Raum übersetzter Karteikasten. Möglicherweise ein Effekt, der aus dem beschränkten Raumangebot des AZW resultiert. Während sie ihrem Publikum also einiges an Fantasie abverlangt, um mit der Vielfalt der sowjetischen Architektur warm zu werden, eröffnen sich in dem großartigen Katalogbuch Welten und Geschichten, durch Reiserouten zu konzeptuell unterschiedlichen Bauten, persönliche Erzählungen oder Beschreibungen von Lebensgewohnheiten durchspickt mit historischem Material sowie ergänzt durch Archivteil und Register. Über Aufrisse der politischen Rahmenbedingungen hinausgehend und mit den einzelnen Entwürfen im Dialog sucht das Buch somit auch Annäherungen an Lebenssituationen und topographische Besonderheiten. Erweitert durch Reiseimpressionen und historisches Bildmaterial bieten jeweils lokale ArchitekturexpertInnen in Essays historische und lokalpolitische Einführungen, oder es werden – soweit dies noch möglich ist – ArchitektInnen als Zeitzeugen aufgesucht. Durch diese gelungene Verschneidung zum Teil historischen Bildmaterials mit unterschiedlichen Narrationen und Analysen setzt dieses Buch einen neuen Standard in der Aufarbeitung von Architektur als Teil der Kulturgeschichte unter dem Paradigma der Sowjetdiktatur. Souverän relativiert es die pathetischen Fotografien des in Frankreich lebende Publizisten Frédéric Chaubin. Dessen textarmes Werk ''CCCP – Cosmic Communist Constructions Photographed'', das im Vorjahr erschien, transformiert eine Reihe der auch hier vertretenen Bauwerke lediglich in einen irrealen futuristischen Monumentalismus. Aufgebaut als explorativer Reisebericht hingegen versucht ''Sowjetmoderne'' die soziale Dimension und die Ebene der Entwurfspraxis einzubeziehen. Die übergreifende historische Bearbeitung der politischen Rahmenbedingungen in der Sowjetunion jedoch hätte wesentlich ausführlicher sein können als lediglich drei Katalogseiten. Als integrierte Hintergrundfolie für die These eines Pluralismus unterschiedlicher Geschichten in der Architektur hätte eine differenziertere Darstellung diesen großartigen Band sinnvoll ergänzt.
Mehr Texte von Roland Schöny

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Sowjetmoderne 1955 – 1991: Unbekannte Geschichten
08.11.2012 - 25.02.2013

Architekturzentrum Wien
1070 Wien, Museumsquartier, Museumsplatz 1
Tel: +43 1 522 31 15, Fax: +43 1 522 31 17
Email: office@azw.at
http://www.azw.at
Öffnungszeiten: tägl. 10-19h


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