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La Triennale – Intense Proximité

Mehr Schubkraft in der dritten Stufe Die „erschreckende Nähe der Ferne“ bildete bereits auf der Documenta 11 eines der kuratorisch-diskursiven Leitmotive Okwui Enwezors. Doch während die von ihm initiierte temporale und territoriale Entgrenzung der Kasseler Weltkunstschau 2002 durch zusätzliche vier Plattformen auf ebenso vielen Kontinenten manchen gar weit hergeholt schien, gestaltete die „Intense Proximité“ betitelte Triennale 2012 in Paris sich weitaus fasslicher, was das Konzept und die Austragungsorte anging. Und im Gegensatz zu den beiden unter dem Label „La Force de l’Art“ unrühmlich schwächelnden Vorgängerausgaben dieser als Leistungsschau nationaler Kunst konzipierten Reihe (2006/09 im Grand Palais) hob Enwezor die diesjährige Großausstellung auf das nötige intellektuelle und internationale Niveau. Mit der 113 KünstlerInnen aus 40 Ländern vereinenden Triennale wurde zugleich das renovierte und räumlich auf 22.000 m2 geweitete Palais de Tokyo wiedereröffnet, wobei die institutionskritisch-dekonstruktive Intervention der Architekten Lacaton Vassal in die neoklassizistische Substanz einen maßgeblichen Teil der Ausstellung bildete. Die nunmehr drei bespielten Ebenen des Baus zeugen in ihrem gewollt rohen, rauen, mithin baustellenartigen Charakter von den verschiedenen Nutzungen im Lauf der Jahre; die freigelegten Durchgänge und -blicke sowie die unterirdischen Kompartimente korrespondierten sinnig mit den Strata des Ausstellungskonzepts, das auch die historische Aufarbeitung einschlägiger Pariser Institutionen implizierte. Denn unter dem Vorwand der Sicherstellung von Kulturgut fanden in staatlichem Auftrag zahlreiche ethnografische Expeditionen statt, um koloniale Sammlungen für die Museen der Metropole zu etablieren und auf Weltausstellungen dem hegemonialen Blick exotische Auslegeware zu bieten. Auf blinde Flecken der offiziellen Chronologie der (De-)Kolonialisierung zu zeigen und Randständigem mehr Sichtbarkeit und Geltung zukommen zu lassen, war dezidiertes Programm von Okwui Enwezor und seiner co-kuratorischen Equipe, Mélanie Bouteloup, Abdellah Karroum, Émilie Renard und Claire Staebler. Fragen des Umgangs mit der postkolonialen Geschichte und Gegenwart stellen sich schießlich in Frankreich dringend und deutlich wie in kaum einem anderen Land: Im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfs zu Beginn der Laufzeit der Schau dominierten Nicolas Sarkozys Beschwörung des „Vaterlandes“ und Marine Le Pens nationalradikales Programm gegen Globalisierung, Immigration und freie Märkte die politische Debatte. Auch angesichts des 50-jährigen Endes des Algerienkriegs zeigte Paris statt Gesten der Reue lediglich Arroganz. Das Gros der heutigen Probleme in den „zones urbaines sensibles“ wurzelt im fortdauernden ethnografischen Blick auf Zugezogene aus den ehemaligen Kolonien; paradoxerweise vervielfachen sich mit zunehmender Mobilität und Migration die Grenzen innerhalb des Landes, das sich offiziell egalitär und laizistisch gibt. Der intensiven Nähe, wenn nicht dem Konvergieren von Kunst und Ethnografie entlang legte Enwezors Team seine raumzeitlichen Achsen – wobei die chronologische Reihung nach den Geburtsdaten der Beteiligten lediglich im Ausstellungsguide das Leitsystem markierte. In der Schau zahnten historische und aktuelle Arbeiten sinnig und sinnlich ineinander, wurde ein vielsagender Dialog zwischen visuell und literarisch nicht eben unbegabten Ethnografen zum einen und andererseits KünstlerInnen, die anthropologisch zu Werke gehen, initiiert. Den frühesten Beitrag bildeten ein Stummfilm und Fotos von André Gide und Marc Allégret, denen das Kolonialministerium 1926 /27 eine Reise nach Äquatorialafrika finanzierte. Dabei gab der Filmemacher acht, weiße Kolonisten nicht ins Bild zu rücken; Gide immerhin kritisierte früh die Unmenschlichkeit der den Kongolesen oktroyierten Arbeitsbedingungen. Schlüsselfiguren der in Regierungsmission durchgeführten kolonialen Feldforschung waren Claude Lévi-Strauss und Michel Leiris, deren zu Bestsellern avancierte Schriften „Tristes Tropiques“ (1955) und „L’Afrique fantôme“ (1934) auch die ideelle Basis der Triennale bildeten. Während Lévi-Strauss die am weitesten vom europäischen Einfluss entfernten indigenen Völker des Amazonasgebiets studierte, interessierte Leiris sich für die vom „Eigenen“ imprägnierten Kolonialgesellschaften, konkret auf den Antillen. Anders als Lévi-Strauss, der als prototypischer Vertreter des Strukturalismus ein philosophisches Denken in universalistischen Begriffen prägte, nahm Leiris in seinen Schriften die auf Fallstudien basierenden Cultural Studies vorweg – über die Prinzipien von Reflexivität, einer Aufmerksamkeit gegenüber Machtverhältnissen und globalen Beziehungen sowie einem Interesse für hybride Identitäten. Beide jedoch betrachteten Ethnografie wesentlich als eine Praxis des Blicks, und beide arbeiteten in einer Weise mit Fotografie, die aus heutiger Sicht durchaus künstlerisch wirkt. Im Palais de Tokyo eröffnete Lévi-Strauss’ „Photographies realisées lors des voyages de recherche“ (1930er Jahre), in denen er variantenreich verzierte Frauengesichter festhielt, gemeinsam mit Walker Evans’ „African Negro Art Portfolio“ (1935), einer ästhetisierenden Dokumentation im Auftrag des MoMA, den Bereich fotografisch-konzeptueller Studien, die Porträts zum Ausgang nahmen. Lorraine O’Gradys „Miscegenated Family Album“ (1980-94) etwa führte über die Aufarbeitung ihrer sklavischen Familienherkunft durch vergleichende Bildpaare beispielhaft vor Augen, wie sehr Fotografie (und Film) die Normierung eines „Anderen“ konstituierten. Experimentellere, stärker kritisch distanzierte Filme der 1960er und 70er Jahre, wie von Timothy Asch, einem Pionier der visuellen Anthropologie, präfigurierten jüngere Ansätze wie Clemens von Wedemeyers „Found Footage (From The Fourth Wall)“ (2008-10). Dessen räumlich wie ideell im Herzstück der Schau situierte Installation sezierte über Fiktion und Fakten konfrontierende Filmausschnitte die mystifizierende Funktion der Kamera. Den Begriff der „vierten Wand“ entlehnte er dem Theater, wo er den illusorischen Paravent zwischen Bühne und Publikum markiert. Den wohl subtilsten Verweis auf den Authentizitätsanspruch der Fotografie evozierten „Des photographies immontrables / Différents façons de ne pas dire déportation“ (2011) von Ariella Azoulay, die mit Zeichnungen und Texten über palästinensische Flüchtlinge das vom Archiv des Roten Kreuzes exekutierte Veröffentlichungsverbot der Fotos und der buchstäblichen „Legendenbildung“ zu den jeweiligen Motiven umging. KünstlerInnen aus Afrika, denen insgesamt einiger Raum zudegacht war, eignen sich – wie oder Georges Adéagbo oder Meschac Gaba – nicht selten ihrerseits die Rolle des ethnografischen Sammlers bzw. Methoden kulturanthropologisch-museologischer Klassifizierung an, um ihr Archivgut installativ zu präsentieren. Die dichte Kohabitation von Werken aus etlichen Weltgegenden und vielen Jahrzehnten verdeutlichte im Verein mit der permeablen, osmotischen Architektur des Palais die Migration von Formen, die Genese polymorpher Identitäten im Sinn einer weltweit stattfindenden „Kreolisation“. Kleine, engagierte Außenstellen an den Rändern des „Grand Paris“ in die Triennale einzubeziehen – den Bétonsalon, das Centre d’art contemporain d’Ivry oder Les Laboratoires d’Aubervilliers –, war nicht nur ein symbolischer Schritt in Richtung Dezentralisierung der höchst hierarchischen französischen Kulturpolitik, sondern auch ein Fingerzeig dahin, dass Off-spaces in urbanen Zwischenräumen mitunter Interessanteres generieren. Ohne Zweifel war diese dritte Triennale nun ein tatsächlich kraftvoller Schub, die aktuelle künstlerische Szene Frankreichs und seiner Kapitale in die internationale Oberliga zu spielen – und womöglich auch den akademisch bislang wenig beachteten Cultural und Postcolonial Studies im Land den ihnen gebührenden Stellenwert zukommen zu lassen. - - - Palais de Tokyo und sieben weitere Institutionen, Paris 20. 04. 2012 bis 26. 08. 2012 Palais de Tokyo 13, avenue du Président Wilson 75116 Paris www.latriennale.org www.palaisdetokyo.com
Mehr Texte von Ulrike Matzer

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