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Kunst oder Leben

Die diesjährige curated by_vienna hat die Blende weit geöffnet: „Kunst oder Leben. Ästhetik und Biopolitik“ lautet der Fokus, zu dem Wiens Kreativagentur departure 25 internationale KuratorInnen eingeladen hat, in den hiesigen Galerien für zeitgenössische Kunst thematische Sonderausstellungen zu programmieren. Aus den vielen eindrücklichen Ergebnissen möchte ich zwei besonders gelungene herausgreifen. Es ist eine Ausstellungskombination, die das Thema von völlig konträren Seiten angeht, und lustigerweise liegen sich auch die entsprechenden Galerien genau gegenüber. Die eine der beiden Ausstellungen ist bei Georg Kargl Fine Arts zu sehen. Der Berliner Künstler Thomas Locher hat in deren kunsthallen-großen Räumlichkeiten eine Auswahl an Werken zusammengestellt, die sich fast alle an der Vorgabe des Diagrammatischen abarbeiten. Das Diagrammatische und die damit verbundene Regulierung der Bevölkerung ist lange schon das ikonische Bildsystem der Moderne. Mit seiner darstellerischen Reduktion auf „Fakten“, seinen mechanisch-kybernetischen Verbindungen durch Pfeile und Linien sowie „universell“ verständlichen Piktogrammen begann sich ab circa 1860 eine neue Bildlichkeit des Lebens zu etablieren, die einerseits die totale Funktionalitäts-Ideologie der Moderne sogleich auf den Punkt brachte und anderseits das Denken bis heute prägt. Die Bildlichkeit der Diagramme ist sozusagen „Biopolitik“ – falls man solche Bulldozer-Begriffe überhaupt verwenden sollte – in Reinform. Bereits ab 1910 versuchten daher Künstler wie Paul Klee oder Marcel Duchamp mit dieser Herausforderung in ihren Werken produktiv umzugehen. Eine weitere Hochblüte erlebte die diagrammatische Reflexion in den 1990er Jahren im Zuge der Neo-Konzept-Kunst. Aus deren Vertretern sind nun beispielsweise Matt Mullican, Peter Fend, Clegg & Guttmann und Stephen Willats in der Ausstellung präsent. Aber ihren Werken ist eine besondere Art der ironischen Pervertierung anzumerken: Die in ihnen enthaltenen Informationsgrafiken sind gar nicht mehr lesbar. Sie tun nur so. Selbst aus Andreas Siekmanns wunderbaren, die Isotypien von Otto Neurath weiterschreibenden Tableaus kann man die versprochenen Informationen (über City-Marketing und andere Sauereien des öffentlichen Raums) nicht mehr nachvollziehen. Die Grafiken sind so komplex geworden, dass die Informationen buchstäblich verknotet im Bild bleiben. Besonders deutlich wird diese Strategie der Verdichtung auch in den gezeigten Bildern und Objektkästen von Gianfranco Baruchello – einem noch lebenden Altmeister (*1924) dieses Genres – , in denen sich die Anhäufungen von kleinen Bildlegenden zu einer Art Schrumpf-Welt verfilzen. Während also in der Ausstellung bei Georg Kargl das „Leben“ durch die gezeigte „Kunst“ offensiv gerade nicht erreicht werden will, unternimmt die Ausstellung auf der anderen Straßenseite den Versuch zur Begegnung vom anderen Pol aus. Die Schau in der Galerie Andreas Huber hat der englische Kurator Adam Carr arrangiert. Gezeigt werden „Werke“ von Leopold Kessler, Ryan Gander, Alek O., Jonathan Monk, Kirsten Pieroth, Wilfredo Prieto u.a. Dass ich „Werke“ in Anführungszeichen schreibe, soll dabei andeuten, dass ihre Seinsweise hier prekär ist. In der auf den ersten Blick sehr museal (galerierote Wände!) wirkenden Ausstellung werden die Werke nämlich nicht nur als Kunst, sondern auch als Indizien präsentiert, konkret: als Spuren eines möglichen Tathergangs, als Zeichen für mögliche Motive und Zusammenhänge, kurz, für „echtes Leben“. Die Ausstellung trägt nämlich den Titel „Detective“, und genau ein solcher hat sich die gezeigten Werke im Vorfeld angeschaut. Welche verräterischen Spuren er in den Kunstwerken dabei jeweils fand, kann man auf den Schildern an den Wänden lesen. Ganz abgesehen davon, dass die Beobachtungen und Vermutungen, die der professionelle Kriminologe Alfred Rupp anhand der meist lapidaren Dinge (u.a. ein zerbrochenes Glas, ein Holzkruzifix, Striche und Fußspuren auf dem Parkett) der Künstler anstellte, witzig zu lesen sind, leitet das Arrangement schön zum Verständnis von „Kunst oder Leben“ allgemein. Wie der Kurator ausführte, hält er seinen eigenen Blick auf Kunstwerke nämlich für ähnlich professionell verschoben, wie jenen eines Kriminologen. Wenn man dazu dann noch die eigenwilligen Perspektiven der auswählenden Künstler zählt, präsentiert uns die Ausstellung also gleich ein ganzes Kaleidoskop an schielenden Blicken. Und wer will daraus schon eine konsistente Sache konstruieren? Auch von dieser Seite her bleibt der Dipol „Kunst oder Leben“ damit unüberbrückt. www.curatedby.at
Mehr Texte von Vitus Weh

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Ihre Meinung

1 Posting in diesem Forum
unvollständiger Blick
bitteichweisswas | 25.09.2012 08:07 | antworten
leider schaffen es die Verantwortlichen von curated by nicht, die ganze Palette der teilnehmenden Galerien (mit Journalisten) zu erreichen. So bleiben manche durchaus lohnenenden Orte wie die sehenswerte Ausstellung "Artists of the No" im projektraum viktor bucher im 2ten mehr oder weniger unbeachtet. Was den in dieser Ausstellung präsenten KünstlerInnen (ua auch documenta-Teilnehmer Ryan Gander) gemein ist, besteht in einer Verweigerung gegenüber einer unter Hochdruck stehenden Kultur der Performance bzw. Professionalität. Ein Besuch lohnt sich!

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