Iris Meder †,
Underground für alle
Als man in den Neunzigern die ersten Bauten von Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal sah, waren sie wie ein Sommerregen nach drückender Hitze. Einfamilienhäuser, deren schmales Budget zur bestimmenden Prämisse des Entwurfs wurde und denen der Verzicht auf jegliche architektonische Pose eine erfrischende Selbstverständlichkeit gab. Auch mit ihrem jüngsten Sozialwohnungsprojekt für Mulhouse, das die doppelte Wohnfläche zum regulären Preis bietet, erweisen sich Lacaton & Vassal als Meister der Reduktion. Das Café des Wiener Architekturzentrums verblüffte demgegenüber komplett: Ein Großteil des Budgets floss in die Fayenceverkleidung des Deckengewölbes.
Der Umbau des Palais de Tokyo ist wie das Wiener Projekt ein Eingriff in bestehende Bausubstanz: In diesem Fall ein für die Pariser Weltausstellung 1937 gebauter Ausstellungsraum moderner Kunst. Während ein Flügel des Art-Déco-Baus an der Seine noch immer Klassiker wie Matisse und Dufy beherbergt, sollte der andere, bereits ausgeweidet für eine andere Nutzung, ein Ort zeitgenössischer Kunst werden.
Lacaton & Vassals lapidares Konzept: Alles so lassen, wie es ist. Das heißt nackte Betonstruktur, herunterhängende Lampenkabel wie im Wiener Café, Bauzäune, offenliegende Leitungen und ein mit Maschendraht (und Lichtschranke) abgeteilter Bookshop. Gegenwartskultur als permanente Baustelle, ein Undergroundfeeling, wie man es einst in Berliner Techno-Tempeln wie dem E-Werk haben konnte, gegen Entgelt konsumierbar für das moderne Bildungsbürgertum, das sich hier jederzeit der Kunstbohème zugehörig fühlen kann. Ein wenig denkt man an Schloss Herrenchiemsee, das sich hinter seiner Pseudo-Versailler Fassade als nacktes Ziegelmauerwerk mit Stahl-Glasdach entpuppt. Auch hier sehen wir ein entkleidetes Gebäude, dessen Skelett aber im Sinne eines jugendlich codierten Chics des Improvisierten präsentiert wird. Dafür muss man dann halt auch mit Klebebändern markierte Stolperschwellen im unebenen Fußboden in Kauf nehmen.
Lesen Sie dazu auch die Konzept-Kritik von Ana Berlin
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