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Das Museum Fridericianum

Das diesen Sommer weltweit wichtigste künstlerische Ausstellungsereignis ist zweifellos die documenta in Kassel. Viele hunderttausende Besucher werden erwartet, alle auf der Suche nach neuer Kunst, nach dem nie Dagewesenen, nach heißer Zeitgenossenschaft. Doch aus dem Haupthaus der documenta, aus dem Museum Fridericianum, werden die Besucher vor allem vom kühlen Lufthauch der Geschichte angeweht. Dafür sorgt einerseits in den Vorhallen ganz buchstäblich eine Ventilator-Installation von Ryan Gander, andererseits gilt das 1779 eröffnete Haus als der älteste Museums-Neubau auf dem europäischen Kontinent, also als eine Ikone der Museumstradition. Doch wer nun meint, dass die documenta damit an eine lange Geschichte der Kunstausstellungen anknüpfen könnte, täuscht sich. Mit der heute gängigen Bedeutung von Kunstmuseum hatte der Begriff Museum lange nichts gemein. Ganz im Gegenteil: Kunst im Sinne von Bilder und Skulpturen zeigte man ursprünglich nicht in Museen, sondern in Galerien. In diesen langen und zumeist hohen Verbindungsgängen war das Gehen wichtig. Galerien waren „Wandelgänge“ in vielfältigem Sinne. Man schritt durch eine Galerie und wandelte sich (innerlich und äußerlich) wie in einem Kreuzgang mehr meditierend als studierend. Auch die herausragende Sammlung flämischer Malerei des hessischen Landgrafen zu Kassel befand sich daher – wie auch die damals berühmtesten Sammlungen in Düsseldorf, Dresden oder Wien – in einer Gemäldegalerie. Das spezielle Gebäude dafür wurde 1749/51 errichtet. Selbst in den 1830er Jahren erschien der Gedanke, Bilder oder Skulpturen in einem Museum ausstellen zu wollen, noch so abwegig, dass die bahnbrechenden Neubauten in München mit Bedacht lieber Glyptothek und Pinakothek genannt wurden. Was aber war dann ein Museum? Das Museum Fridericianum beispielsweise diente der Aufnahme der Kabinette für Naturgeschichte, für Münzen und Mathematik sowie der öffentlichen Bibliothek. Auch ein Wachsfigurenkabinett, ein Uhrenkabinett sowie eine Sammlung europäischer Gebrauchskleidung waren darin untergebracht. Die Begründung für die Bezeichnung Museum auf dem Portikus war allerdings die Bibliothek. Man berief sich dabei auf die berühmte, Museion („Ort der Musen“) genannte Bibliothek im antiken Alexandria. Zahlreiche literarische Zirkel und Zeitschriften nannten sich im 18. und 19. Jahrhundert entsprechend Museum. Ab 1913 wurde das Museum Fridericianum dann sogar ausschließlich als Bibliothek genutzt. An diese ortspezifische Historie wurde in der Geschichte der documenta bereits öfters angeknüpft, zum Beispiel durch Ecke Bonks Buch der Wörter, das anlässlich der d 11 das Grimmsche Wörterbuch der deutschen Sprache in Erinnerung rief. Auch die letzte documenta (d 12, 2007) knüpfte mit ihren Studiolo-Inserts auf herausragende Art an die einstige Funktion des Fridericianums als Lehrmittelsammlung an. Das anlässlich der dOCUMENTA (13) von Carolyn Christov-Bakargiev initiierte und von Bettina Funcke betreute Publikationsprojekt 100 Notizen – 100 Gedanken führt diese Tradition auf wunderbare Weise fort. Bereits lange im Vorfeld wurden dafür hundert unterschiedliche Wissenschaftler, KünstlerInnen und Journalisten eingeladen, in dünnen Heften einen Einblick in ihre Notizbücher und Gedankenküchen zu geben. Den Käufern der Hefte eröffnen sich mit ihnen preiswerte und haltbare Einblicke in die unterschiedlichsten Formen der Einbildungskraft. Sie sind jeweils in sich abgeschlossene Welten und ergeben zusammen doch eine Bibliothek (mehr nicht – jedenfalls keine zusammenhängende Kuratoren-Welterklärung). In ihnen zu schmökern, sich von zufälligen Heft-Nachbarschaften zu Verbindungen inspirieren zu lassen, angesichts der schieren Menge notwendiger Weise selektiv zu bleiben und möglicherweise sogar noch die ästhetische Eigenarten des jeweiligen Notizbuchstils zu würdigen: Solches Verhalten sollte wohl auch der Leitfaden für den Besuch der großen Ausstellung sein.
Mehr Texte von Vitus Weh

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