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Untitled (12th Istanbul Biennial): Im Bann der Kunstgeschichte

Zurückgeschraubt in Richtung pragmatische Normalität tritt diese Istanbul Biennale auf. Ein zentrales Moment der letzten Jahre fehlt heuer: Und zwar jene Trabanten, die mit Prozessen urbaner Transformation bekannt machten oder zu Orten des Aufbruchs und der Aufklärung in der Türkei hinführten. 2007 waren an der Peripherie die Volkshochschule Halk Egitim Mekezi in Kadiköy jenseits des Bosporus, das neue sozialwissenschaftliche Universitätszentrum nahe des Kulturclusters Santralistanbul oder der Textilmarkt Dünya Fabrikas? als signifikantes Beispiel der Architektur der Moderne einbezogen. Auch ihren offensiv politischen Anspruch lässt die Istanbul Biennale vermissen. Im Gegensatz zu ihren letzten beiden Ausgaben. Deren kuratorische Statements waren wie Manifeste formuliert. Es wurde das städtische Leben unter dem Paradigma der Globalisierung fokussiert, oder es wurden in historischen Rückbezügen gesellschaftspolitische Positionen der jüngeren Kunstgeschichte einbezogen (2009). Solche Zuspitzungen und die 2009 radikal inszenierten Auftritte des sich auf Bertold Brecht beziehenden kroatischen Kuratorinnenkollektivs „What, How & for Whom / WHW“ gingen den städtischen Veranstaltern und der als Hauptsponsor beteiligten Vehbi Koc-Foundation offenbar zu weit; obwohl letztere in anderen Bereichen durchaus sozial engagierte Programme finanziert. Das diesjährige Biennale-Motto „Untitled“ klingt nun nach Allerweltsüberschrift. Damit versuchten die Kuratoren Adriano Pedrosa aus São Paulo und Jens Hoffmann, Direktor des CCA Wattis Institute for Contemporary Arts in San Francisco, aber einen klugen Schachzug. Sie beziehen sich auf die von dem 1996 verstorbenen Félix González-Torres oftmals gewählte, typische Werkbezeichnung ohne fixierte Bedeutung; also „untitled“. Der kubanisch-amerikanische Künstler griff damit das Phänomen der stetigen Veränderung der Bedeutung im Kontext von Raum und Zeit auf. Bekanntlich sind seine konzeptuellen Arbeiten am jeweiligen Ort temporär jeweils neu zu realisieren. Weiters übernahmen die Kuratoren González-Torres’ Intention, ästhetische Bestrebungen und politische Kritik zusammenzuführen. Trotzdem wirkt die Biennale stellenweise gespreizt und dann wieder beliebig, auch wenn das lokale Publikum Gelegenheit erhält, eine Reihe wichtiger Positionen kennen zu lernen. Zu sehr aber dominiert der Säulenheilige der Biennale das Ausstellungskonzept, dessen Werke zwischendurch immer wieder wie didaktische Referenzen auftauchen. Unterteilt ist die Biennale in einzelne Untitled–Kapitel wie zum Beispiel „Untitled/Abstraction“. Ein rigides White-Cube System des japanischen Architekten Ryue Nishizawa aus glänzendem Aluminium Wellblech gibt dabei die Struktur vor. Auch in Istanbul wird die Tendenz spürbar, Biennalen zu temporären Museen zu machen. Dass da beispielsweise die Brasilianerin Renata Lucas mit ihrer nach oben aufklappbaren Rauminstallation „portable floor“ auf die deutsche Fotokünstlerin Annette Kelm, auf Lygia Clark, Mona Hatoum oder Charlotte Posenenske trifft, lässt sich nachvollziehen, wirkt dann aber doch zu konstruiert. Solche Begegnungen basieren auf der Grundidee, „group shows“ mit „Solo-Präsentationen“ zu kontrastieren, wobei letztere schlicht und einfach als „Dehnungen“ im Gesamtzusammenhang zu verstehen sind; oder einfach als einzelnes Werk in einem Raum. Geboten wird eine szenisch gebändigte, kompakte Schau, die pointiert als Kontrast zwischen Formfetischismus und Thematisierung des Politischen fokussiert auf Krieg und bewaffnete Auseinandersetzungen lesbar ist. Außerdem wird noch die Dimension von Mord und Verbrechen hereingeholt, etwa mit Fotografien von Wegee, der in den 1930er und 40er Jahren Kriminalität und Polizeialltag in der New Yorker Lower East Side protokollierte. In dessen unmittelbarer Nähe wiederum fesselt eine großartige Video-Arbeit des Mexikaners Edgardo Aragón als Großbildprojektion das Publikum. In pathetisch dramatisierten Bildern zeigt es Gewaltszenarien, in die Mitglieder von Aragóns Familie tatsächlich involviert waren; zum Beispiel wie ein Bub im Führerhaus eines Lastwagens erschossen wird. Von anderen, noch lebenden Angehörigen ließ der Künstler solche Greueltaten nachstellen. Durchaus starke Werke also. Zurück bleibt dennoch der Eindruck, dass die Kuratoren ihrem eigenen Anspruch auf den Leim gingen und eine didaktische Konstruktion auf tönernen Füßen präsentieren, weil ein bisschen zu sehr kunsthistorisch zurechtfrisiertes Wollen dahinter steht, das dem Credo von Félix González-Torres folgt. Der Kurzführer wiederum, als einziges Textkonvolut, bringt in erster Linie Interviews zu den aktuellen Werken der jüngeren KünstlerInnen - vor Ort kompliziert zu lesen und als Ausstellungsführer nicht umfassend genug. Schauplätze jedenfalls sind die ehemaligen Lagerhallen Antrepo 3 und 5 in der Hafengegend direkt beim Museum Istanbul Modern, und gerechterweise muss man anmerken, dass die Biennale offensichtlich enormes Interesse hervorruft. Dem Publikum bietet sie – so oder so gestaltet – in jedem Fall die Möglichkeit eines erweiterten Einblicks in die Kunst der Gegenwart verknüpft mit zahlreichen Rückbezügen – etwas das Istanbuls sonst reges Ausstellungsleben selten bietet.
Mehr Texte von Roland Schöny

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Untitled (12th Istanbul Biennial)
17.09 - 13.11.2011

Istanbul Biennale
Istanbul,
http://14b.iksv.org


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