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Komplexe Kultur und Kulturkomplexe

Zehn Jahre MQ Wien In den letzten Jahrzehnten wurden europaweit zahlreiche große kulturelle Institutionen errichtet, in denen Museen und Ausstellungsräume zwar ein wesentlicher, aber nicht der alleinige Bestandteil sind; Museen wurden zu einem Teil eines Ganzen, das auch Ateliers, Bibliotheken, Kinos, Seminarsäume, Redaktionsbüros und ähnliches zusammen mit Restaurants, Geschäften usw. umgreift. Neben dem klassischen, monofunktionalen Museum, das sich gattungsspezifisch einer kanonischen Sammlung verschrieben hat, etablierten sich dadurch Institutionen, die viel breitere Themenfelder, Instrumentarien und Zielgruppen erschließen. Das Edu- und Infotainment der Science Center beginnt sich mehr und mehr durchzusetzen, die virtuellen Besuche steigen, die Einbettung in den städtischen Kontext wird immer wichtiger. Dass solch eine Verschiebung nicht friktionsfrei verläuft, ist klar. Oft ist bereits der Hang zum Populären, zur Vermarktung und zum Spektakel betont und damit kritisiert worden. Man kann die rezente Entwicklung aber auch als den bemerkenswerten Versuch beschreiben, der vermehrt wahrgenommenen Komplexität der Kultur, resp. Unübersichtlichkeit des Lebens nicht mehr durch Komplexitätsreduktion – wie sie eben durch das monofunktionale Museum betrieben wird ¬, sondern im Gegenteil durch eine Art Verkörperung der Komplexität zu entsprechen. Auch das vor zehn Jahren eröffnete MuseumsQuartier Wien ist eine Verkörperung einer komplexen Situation. International wird es oft sogar als Paradebeispiel eines solcherart symbolischen Organismus genannt. Ein Großteil des Symbolischen ist dabei in Stein gegossen: Die Verkörperung beginnt bereits beim Umstand, dass sich auf dem Areal umgenutzter Altbestand wild mit Neubauten mischt und auf diese Weise verschiedene Epochen und entsprechende Geisteshaltungen nebeneinander stehen. Auch dass die planenden Architekten einen auffallenden Materialmix (Weiß, Schwarz, Rot) praktiziert und die Neubauten des Areals an den „Kraftfeldlinien“ der umliegenden Bezirke (imperial / vorstädtisch) ausgerichtet haben, trägt das seine zur komplexen Wahrnehmung bei. Ebenso, dass das Areal keinen besonders repräsentativen Haupteingang hat, sondern offene Tore nach allen Seiten hin, und dass das Areal von Durchgängen und Passagen wie von einem Arteriensystem durchzogen wird, und dass zahlreiche Privatwohnungen das Areal durchweben. Auch das Nebeneinander der Institutionen und Aktivitäten ist programmatisch. Die inhaltlichen Facetten, die dem Publikum in unterschiedlichen Häusern und Höfen dicht beieinander angeboten werden, sind sehr unterschiedlich: Es gibt Kunst, Tanz, Architektur, Design, Theater, Digitale Kultur, Kinder, Mode, Comics, Typografie usw., und jede Facette ist jeweils eine eigene Institution mit einem eigenen Publikum, einem Kanon und mit Diskursen, kurz: Jedes Thema kommt als eine eigenen Welt daher. Überschneidungen oder Kooperationen zwischen diesen Welten kommen zwar mitunter vor, sind jedoch nicht die Regel. Meines Erachtens ist das vergleichende Wahrnehmen auch viel mehr eine Aufgabe jedes Einzelnen: Was im Areal bereitgestellt wird, ist ein wuchernder Dschungel an Informationen, kultureller Formen und Weltsichten; Darin selbstverantwortlich zu forschen und Endeckungen machen zu können, ist ja gerade das Abenteuer! Die möglichen Exkursionsgebiete sind im MQ vielfältig: Tatsächlich praktiziert kein anderer europäischer Kulturkomplex solch ein deutlich komplementäres Nebeneinander von Produktionsbüros und Repräsentationsbetrieb, von vergnügungsorientierter Freizeitoase und entrücktem Studienort, von Bildung, Gastronomie und Kommerz. Neugier und Schlaf, Rausch und Aufklärung liegen im MQ buchstäblich sehr dicht beieinander. Aber die Sorgen, dass die verschiedenen Pole in eins fallen könnten, haben sich bislang nicht bestätigt. Und solange die Eingangtüren zu den Museen dem Treiben in den Höfen so weit enthoben bleiben wie bisher (und auch dies ist gleichsam in Stein gegossen), braucht man sich um die Trennschärfen auch für die Zukunft keine Sorgen machen. Für mich gehört das selbstbewusste Nebeneinander der verschiedenen Soziotopen zu den besten Momenten des MQ. Die demonstrierte Gleichwertigkeit der kulturellen Ausdrucksformen und die Toleranz gegenüber unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten derselben verbindet das MQ mit berühmten Vorbildern wie dem Kulturhuset in Stockholm (1974 eröffnet) oder dem Centre Pompidou in Paris (1977 eröffnet). Es sind Volks- bzw. Kulturhäuser. Im idealen Sinne wird in ihnen „Kultur“ nicht in einem missionarischen Sinne „für alle“ produziert, sondern auf vielfältige Weise „von allen“.
Mehr Texte von Vitus Weh

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