Vitus Weh,
Europas Nomaden
Nachbetrachtung zur manifesta in Murcia/Cartagena
Das Beste an der manifesta, der europäischen Kunstbiennale, ist, dass sie immer an anderen Orten stattfindet, und diese naturgemäß nicht auf solch eine Großveranstaltung vorbereitet sind. Es gibt dadurch keine eingespielte Abwicklung, keine prädestinierten Pavillons oder Hallen, keinen Publikumshype oder sonstige Verwertungseffekte wie bei den anderen Großausstellungen oder Biennalen rund um die Welt. Ebenso der Perfektionismus, der üblicherweise mit Kunstpräsentationen einhergeht, ist nicht existent: Es gibt keine beeindruckenden Museumsfassaden, kein tolles Foyer, keine „neutralen“ Räume, keine geübten Mitarbeiter. Auch bei der jüngsten manifesta in Murcia und Cartagena, zwei benachbarten Städten im Süden Spaniens, war das so. Die künstlerischen Werke waren über zahllose Häuser verteilt, die meisten davon überkommen und desolat: eine ehemalige Kaserne, ein ehemaliges Gefängnis, ein kurioses Mühlenmuseum, das ehemalige Postamt usw. Solch Orte haben von sich aus schon starke Atmosphären, überliefern Spuren, erzählen Geschichten und bezeugen Wandel. Es sind Settings, in denen allfällige Kunstwerke einer ganz offensichtlichen Prägung und gleichzeitigen Zerstreuung unterliegen. Im aktuellen Fall wurde die Zerstreuung durch das gewählte Kuratorenmodell noch verstärkt: Es gab keine zentrale künstlerische Leitung, sondern drei Teams (tranzit.org, Chambers of Public Secrets - CPS, Alexandria Contemporary Arts Forum - ACAF) aus insgesamt neun Kuratoren, die ihrerseits viele bislang unbekannte Künstler eingeladen hatten. Der Eintritt für Besucher war frei.
„Wer soll sich da noch auskennen?“ war folglich der überwiegende Tenor der manifesta-Rezensionen. Doch die Negierung des Kanonischen ließ sich auch als Stärke empfinden: Sie öffnete Zwischenräume, um die Stadt (eine maurische Gründung, der Name Cartagena geht auf Kartago zurück), die Umgebung (eines der wichtigsten Obst- und Gemüseanbaugebiete Europas), sich selbst (wann und wo soll ich hier essen?) und nicht zuletzt das offizielle Thema der Veranstaltung („Die Region Murcia im Dialog mit Nordafrika“) wahrzunehmen. Die ausgestellten Werke werden durch solche Herangehensweisen natürlich „degradiert“: zu Ab- und Umlenkungen in einem Parcours, zu beiläufigen Anmerkungen und Konversationsanlässen. Aber viele der gezeigten Arbeiten hätten mit ihren Strategien des flüchtig Filmischen, der offenen Formen und prekären Materialien wohl auch in einem klassischen White Cube gar nichts anderes sein wollen – nur würde man dort, solang es eben kein „Off-Space“ mit seiner jeweils spezifischen Szene wäre, weniger damit anfangen können, resp. wären die Werke dort gleichsam Fußnoten ohne Haupttext. Im Setting der manifesta waren derlei statuslose Kunstformen und die eigentümliche Autorenlosigkeit der Auswahl jedoch erstaunlich gut aufgehoben. Beides passte sowohl zum Nomadentum der manifesta als auch zum diesjährigen Thema: Der bereits jahrtausendalte kulturelle Austausch zwischen Südeuropa und Nordafrika geschah ebenfalls immer mit leichtem Gepäck; heutige Migranten reisen mitunter gänzlich ohne.
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