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Private Wurm: Unheimlich privat. Ich ausgenommen. Gefreit.

Über die Ausstellung Private ¹ Wurm unter besonderer Berücksichtigung des Narrow House. Eine Ansichtskarte. Nichts ist beunruhigender als die stetige Bewegung dessen, was unbeweglich scheint.

Gilles Deleuze

Bewegung und Stillstand. Frage und Antwort. Ist die Skulptur eine Sprache? Unter welchen Regeln, Grammatiken, Begrenzungen? Ist die Skulptur eine Erkenntnis? Über welche Gebiete, Räume, Zeitebenen? Ist die Skulptur ein Raum? Wie viel Kubikmeter? In welchem Aggregatzustand? Feststeht: ein Haus, ein Elternhaus, ein so genanntes (2). Das Haus, die Realität (3). Ist es das tat-sächlich? Entworfen, gebaut. Wer ist sein Urheber? Urbauer? Oder bilden wir uns ein Haus ein, weil es offensichtlich vor uns steht. Skulptur. Räumliche Fiktion. Vorstellung. Kunst. Wofür steht ein Haus? Steht es dafür? Hält das Haus, was es verspricht? (Ein Haus halt.) Wie eng ist unser Blick? Eng genug? Angepasst an die Umstände? Anständig? Moralisch motiviert? Unbewegt? Die Welt ist ein sich mit der Zeit ausdehnender Raum. Eine sich mit dem Raum zusammenziehende Zeit. (4) Stehen wir an mit unserer Erkenntnis? Mit unserem Körper. Stellen wir uns an, damit wir sehen? Wie stellen wir uns dabei an? Das Innere ist das Eigentliche, darum geht es, soviel steht fest. (Raum als die Innenseite einer Sache, seine 'Endophysik', so Peter Weibel (5).) Binnenraum oder bin ich nicht? (6) Bin ich als Besucherin ausgeschnitten aus der Kunst? Ein Ausschnitt der Kunst. Einbezogen in den Raum? Eingezogen in das Haus? Der eingezogene Raum, das Innen. Das Außen lässt sich ja auch verhüllen. Kosmetisch gesehen. Anstreichen. Hat das Haus denn ein Gesicht? Wen spricht es an, mich? (Robert de Niro/Taxidriver: "You talkin to me?") Sieht man ihm die Person an, die in ihm wohnt, gewohnt hat? Schämt es sich? Schandfleck in der Landschaft. Oder Schönheitspunkt, aussichtsreicher. (7) Hat es einen Körper? Einen Kosmos? Was verkörpert das Haus? Den Menschen? (8) Vollständig? Amputiert? (Das Haus wohnt in uns wie wir in ihm wohnen, nach Gaston Bachelard (9)). Der Schein trügt, er trägt nicht. Ertrage ich die Mauern? Und die Einrichtung. Das Leben ist ja keine Dauereinrichtung. Aber die Gewohnheit, die ich mitnehme, egal, wo ich wohne. Allerdings: Diätwohnen ist angesagt. Wie im Sarg schlafen. Kojisiert. Kondensiert. Konserviert. (10) Und die Zeit soll möglichst keine Spuren hinterlassen. Erinnerungen festhalten, ja, aber nicht nach außen tragen. (Bitte fotografieren Sie ruhig, stellen Sie sich ans Haus und halten Sie sich fest!) Ist das Haus der intime Raum? Solide Basis der gemeinen Erkenntnis? Komplex der "inneren Erfahrung"? (11) Besitzt es Autorität? Elternhaus = Geburtshaus. Elternhaus = Sterbehaus (12). Wenn es sich (sich mir alles) zusammenzieht, die Luft nimmt. Ungelüftet. "Keine Luft & keinen Humor" (13). Dem Speicher der Erinnerung die Luft auslassen. Wie weit oder eng ist der Einfluss einer Kunst auf das Denken. Eines Denkens auf die Kunst. Die Phänomene der Zeit zum Thema. "Später glaubt man überall seinen Einfluss auf unsere Epoche zu entdecken, einfach deshalb, weil er selbst zu dieser Epoche gehört." So André Gide über Henri Bergson (14). Denkt ein anderer über einen anderen. Einander übereinander. Was spielt das für eine Rolle? Wer spielt eine Rolle? In der Kunst. Sieht man das? Wie viele Pullover. Über meinen Leib gezogen <(15). Und wie steh ich dann da? In welcher Position? (16) Bergson der Dauerdenker (durée et simultaneité). Wenn Gedanken flüchtig sind, wohin fliehen sie dann? (17) Ununterbrochene Zeit, die Materie ist kein Aggregatzustand stabiler Teilchen, Instantkaffee. Im Haus die Bewegung aufgelöst, das Schuhwerk einzementiert. (18) Wie bequem ist das Denken im Haus? Das Ungeheure ist das Heimliche. Mein Zuhause als Krümmung im Weltraum. Da pfeif ich drauf. Im Elternschlafzimmer. Auf die tapezierte Kleingeistigkeit. In meinem Gehirn ist die ganze Welt enthalten, virtuell. Wahrscheinlich auch woanders. Privat und öffentlich, die beiden großen Lebensraumkategorien. Alle übrigen Räume dort einzuräumen. (19) "Gehe ich aus dem Privatraum hinaus in die Welt, um sie zu erobern, dann verliere ich mich darin, und kehre ich heim, um mich wiederzufinden, dann muss ich die Welt verlieren," setzte einst Hegel seinen Standpunkt. Und heute? Unentwegt öffentlich. Vernetzt. Nichts ausgenommen. Den eigenen Raum ausweiten, die Identität(en). Ausleben. Überall gleichzeitig. Geballtes Biedermeier. Facebook statt Gästebuch. "Wenn die Intensitäten zu Intentionen werden, betritt man den Raum der Repräsentation," so J.-F. Lyotard. (20) Bin ich jetzt im Salon, wo Denker Gericht über die Kunst halten? Luft anhalten, an Deleuze denken (21). Gelöst sein. Selbst Utopie werden, fruchtbare. Das Verdächtige an der Philosophie ist die Definition. Das Unbedachte der Kunst ist das Andere am Denken, das Offene. Im Leben gibt es nur Fragen. Und der Tod ist die Antwort. (22)

E.M. Cioran

Anmerkungen
1 Privat meint hier nicht eine intime Auseinandersetzung die eigene Person bzw. Geschichte betreffend. Englisch Private bedeutet "Gefreiter", den zweiuntersten Mannschaftsdienstgrad. Ursprünglich handelt es sich dabei um den vom Schildwachestehen befreiten Soldaten.

2 Nach Angaben des Künstlers. Und der herkömmlichen Begrifflichkeit.

3 Im Sinne von "Immobilie", aber auch darüber hinaus: "Der Raum, ans Licht gebracht durch das körperliche Objekt, zur physikalischen Realität erhoben durch Newton, hat in den letzten Jahrzehnten den Äther und die Zeit verschlungen und scheint im Begriffe zu sein, auch das Feld und die Korpuskeln zu verschlingen, so daß er als alleiniger Träger der Realität übrig bleibt." Vgl. Albert Einstein: Raum, Äther und Feld in der Physik. In: Forum Philosophicum I (1930), 173–180. Vgl. dazu auch die Videoprojektion Tell (EW 2007/08). Hervorhebung von mir.

4 Vgl. Vilém Flusser: Räume. In: Dünne, Jörg und Günzel, Stephan (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main 2006, 275f.

5 P. Weibel, Intelligente Wesen in einem intelligenten Universum. In: Ars electronica. Intelligente Ambiente, Wien 1994. Bzw. online nachzulesen: www.peter-weibel.at

6 Vgl. z.B. Videographie: Am I a house? (EW, 2005)

7 Vgl. Zur Lage der Nation (EW, 2006), Auszug aus dem Film: "Was haben sie sich dabei gedacht, deine Eltern dich in die Welt zu setzen? Haben die gewusst, was das wird? Haben die gewusst, was für eine miese Existenz da herauskommt?"

8 "Wir (nämlich jene Lebewesen, die 'Organismus' heißen) sind Röhren, durch deren eine Öffnung die Welt hereinfließt, um durch die andere wieder hinauszufließen. Das heißt: es gibt für uns ein Vorne (Schlund) und ein Hinten (After). Die meisten von uns sind symmetrisch gebaut, aber nicht eigentlich rund um die Röhre, sondern entlang der Röhre. Das heißt: die meisten von uns können zwischen rechts und links unterscheiden […]. Ursprünglich sind wir wohl alle im Sand der Brandung eines kambrischen Meers nach vorn und nach hinten, und nach rechts und nach links gekrochen: der Name für lebende Röhren ist ja "Würmer". […] Nur haben einige von uns sich vom Boden abgestoßen (zum Beispiel Vögel und Insekten) und andere haben sich aufgerichtet, obwohl sie am Boden geblieben (zum Beispiel Kopffüßler und Menschen). […] Für die aufgerichteten, kleben gebliebenen Würmer sind es […] eher Dimensionsachsen, die sich geöffnet haben: ein Achsenkreuz eben. Und damit ist der sogenannte Lebensraum beschrieben. Alle anderen Räume sind Abstraktionen davon." Vilém Flusser: Räume. In: Heidemarie Seblatnig (Hg.), außen räume innen räume. Der Wandel des Raumbegriffs im Zeitalter der elektronischen Medien. Wien 1991, 75–83.

9 Vgl. Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. Frankfurt/Main 1987.

10 Denke z.B. an die japanischen Schlafkapseln z.B. im Capsule Hotel "9hours" in Tokyo.

11 Lese z.B. George Bataille: Die innere Erfahrung. München 1999.

12 Wenn es sich einrichten lässt, nicht zu früh, bitte.

13 Maria Caviola, in einem Gespräch mit mir. Kurz vor ihrem Tod.

14 A. Gide, Journal 1889–1939, Paris 1951, 783. Vgl. Erk Oger: Bergsons Werkgeschichte. In: Henri Bergson, Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, XXXVIII.

15 Vgl. z.B. Fabio getting dressed (EW 1992) oder 13 pullovers (color video)

16 Vgl. z.B. 59 Positions (EW 1992) oder Palmers (EW 1997)

17 Überlege Mind Bubbles (EW 2008); vgl. auch Helmut Friedel: Zum Skulpturenbegriff bei Erwin Wurm. In: Erwin Wurm, Dumont Verlag. 2009, S.22f: "Solche Gedankenblasen entspringen der Vorstellung von der Flüchtigkeit des Wortes […] Dass Gedanken flüchtig sind, entspricht einer gängigen Vorstellung."

18 Vgl. z.B. Concrete Boots (Sarah Lukas 1998–1999).

19 Vilém Flusser über das raumgestalterische Denken der letzten 10.000 Jahre. Vgl. Flusser, a. a. O., 279f.

20 Jean-François Lyotard, Intensitäten. Berlin 1978, 29

21 Vgl. z.B. Thinking about philosophers oder Luft anhalten, an Spinoza denken (EW 2004).

22 "Wenn man sich in der Weisheit über das Leben und den Tod erhebt, dann sinkt man im cafard, der das Scheitern der Weisheit ist, unter ihre Ebene hinab. Dort vollzieht sich die Nivellierung der Erscheinungen, die Nichtigkeitserklärung der Vielfalt." E. M. Cioran: Cafard. Originaltonaufnahmen 1974–1990.

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Private Wurm
20.10.2010 - 30.01.2011

Essl Museum
3400 Klosterneuburg, An der Donau-Au 1
Tel: +43-2243-370 50 150
http://www.essl.museum
Öffnungszeiten: geschlossen


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