Werbung
,

Wie das Sitzen unser Denken entwirft

Wiener Design einst und heute Zwischen Wien und Graz türmt sich geografisch gesehen nur der Semmering, designtechnisch jedoch liegt zwischen beiden Städten gleichsam ein ganzer Kontinent. „Wien sei eine Stadt zum Denken,“ sagte 2002 Paolo Piva, langjähriger Leiter der Designklasse der Universität für Angewandte Kunst Wien. Denken im Sinne von Utopie und Kunst hatte er damit gemeint und sich abgrenzen wollen von anderen österreichischen Designstudiengängen, die sich stärker um praktisch-technische Anwendungen kümmern. Die Ansätze der hiesigen Ausbildungsorte für Design (Universität für Angewandte Kunst Wien, Kunstuniversität Linz, FH Joannneum Graz und die private New Design University in St. Pölten) sind in der Tat sehr unterschiedlich. In Linz setzt man auf eine naturwissenschaftliche Orientierung von Industrial Design; in St. Pölten zielt man auf Grafik-, Innenraum- und Eventdesign, gibt sich also flexibel und neuen Anwendungen aufgeschlossen. Den Studiengang in Graz gibt es gar erst seit rund 15 Jahren, international gesehen genießt er aber bereits das höchste Ansehen. Passend zum Auto-Cluster der Umgebung liegt ein Schwerpunkt auf Transportation-Design. Viele Grazer Absolventen konnten sich auf dem Markt, sei es bei Audi, Porsche oder BMW, bereits gut positionieren. Aktuell zeigt das Designforum im Wiener MuseumsQuartier (bis 31. August) unter dem Titel „DESIGN IMPULSE aus der Steiermark“ einen Querschnitt durch das Spektrum. Und das ist wahrlich futuristisch: biomorph geschwungener Hightech-Appeal in jedem Entwurf. In Wien hingegen orientiert man sich anders. Klar: Um Wien herum gibt es auch keine Auto-, Flugzeug, Fahr- und Motorradindustrie, die in einem größeren Umfang nach Industriedesignern verlangen würde. Die Produktionsebene ist eher von traditionsreichen Manufakturen für Hausrat geprägt, die sich in den letzen Jahren dem zeitgenössischen Design zugewandt haben. Das Produktspektrum reicht von Lobmeyr Glas über den Textilproduzenten Backhausen bis hin zur Emailfabrik Riess. Auch jüngere Betriebe wie Wittmann Möbel, die Silbermanufaktur oder die Neue Wiener Werkstätten arbeiten intensiv mit Designern zusammen. Heraus kommen dabei meist wunderbare Einzelstücke. Aber die tendenzielle Verweigerung einer industriellen Orientierung hat nicht nur mit der Manufaktur-Basis, sondern auch mit einer speziellen Tradition zu tun. Es ist eine gestalterische Historie, die in Wien um 1900 begann und in deren Zusammenhang Paolo Pivas Verweis auf das Denken auf ganz andere Art schlagend wird. Die bekanntesten Designstücke aus Wien sind nämlich tatsächlich lauter „Denk-Einrichtungen“, es sind Interieurs und Möbelstücke für ein spezielles Lagern und miteinander Verkehren. Erinnert sei an die leichten und mobilen Cafehausstühle der Firma Thonet (seit 1859), an die psychoanalytische Couch von Sigmund Freud (ab 1895) bis hin zu den neuen Möbeln für den öffentlichen Raum von PPAG (im MQ Wien seit 2002) und Walking Chair (“You May“, 2009). Solche Möbel sind Geräte, die bestimmtes Verhalten und Kommunikationssituationen gezielt erzeugen wollen. Aus einem speziellen Hygieneverständnis heraus werden die Möbel und Interieurs dabei gleichsam konstruktiv als Exterieurs der Seele entworfen. Es sind Einrichtungen im doppelten Wortsinn: Einrichtungen wie Einrenkungen. Ihre Spezialität besteht darin, Körperhaltungen, Neurosen und Verhaltensweisen sowohl aufzunehmen als auch zu provozieren. Es sind Therapie- und Utopieräume zugleich. Solcherart „natürliche Geräte“ galten bereits Otto Wagner 1902 als „schlechthin Notwendiges“ und dabei zugleich als „ein Weg des Fortschritts“. Seit Anbeginn haben sie sowohl ganze Berufszweige (siehe Psychotherapie) als auch neue Orte der Freizeitgestaltung (siehe MQ Wien) ins Leben gerufen. Mögen sich da die anderen Ausbildungsorte für Design ruhig mit Industrie oder Strukturwandel herumschlagen: In Wien lagert man sich und denkt. Oder produziert eben die Möbel dafür. Ob sich daran jüngst etwas geändert hat, wird eine Ausstellung im Wien Museum analysieren: „2000 – 2010. Design in Wien“. Sie eröffnet am 7. Oktober und läuft bis 9. Jänner 2011. Bis dahin kann man ja erstmal sitzen bleiben.
Mehr Texte von Vitus Weh

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: