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Rot-Grüne Radieschen am 1. Mai: Wien denkt weiter

Eine kleine Gruppe von Männern, eher proletarisch im Habitus, beeindruckte mich als Jugendlichen, weil sie sich immer direkt vor der Kirche trafen, während der gesamten Messe draußen blieben, und rauchten. Sie hatten zwischen Pflicht und Neigung, Anpassung und Dissens ihre Form gefunden. Wer nicht weiß, was Anpassungsdruck im ländlichen Raum noch in jüngerer Vergangenheit war, dem wird die subtile Opposition dieser Geste vielleicht verborgen bleiben, und er wird die spezifische Modernität übersehen, die die rauchenden Männer am Kirchenvorplatz in ihrem „crossover” verkörperten, lange bevor sich die Kirchen leerten und lange bevor mit Qigong-Kursen, GTI-Treffen und skypenden Großeltern der Fortschritt auch noch in das entlegenste Alpental drang. Noch weiter in der Vergangenheit freute sich bereits meine Mutter als Kind über den 1. Mai, da sie an diesem Feiertag an der Hand ihres Vaters am Vormittag über die Wiesen gehen konnte, und nicht – wie sonst an jedem anderen Feiertag im ländlichen Tirol – in die Kirche gehen musste. Es bleibt dahingestellt, ob manche Mitglieder der Wiener Sozialdemokratie nicht auch lieber über die Wiesen gehen würden, als sternförmig zum Rathaus zu marschieren, doch liegt am 1. Mai auch ein Hauch von Kirchgang, Brauchtumspflege und Landleben über der Wiener Innenstadt. Folgerichtig entschieden sich die Autoren der „causeries du lundi” – zwei mittlerweile nichtrauchende Väter mit Landhintergrund – zum Betriebsausflug und gingen ein Stück des Weges neben der Sozialdemokratie am Wiener Ring entlang. Nun sucht der Kulturstadtrat von Wien Streit, wie er in einem langen Interview betont, das er letzte Woche anlässlich der Veröffentlichung des kulturpolitischen Thesenpapiers „Wien denkt Weiter” (1) dem „Falter” gab, und wir könnten z.B. über die Wahrnehmung streiten, dass manche politische Parteien mit zunehmendem Abstand zur Macht sympathischer werden. Dies zeigte sich auch beim Aufmarsch, der von mir beim Burgtor noch wohlmeinender kommentiert wurde, bevor – mit Annäherung an das Rathaus und nach mehrmaligem Vernehmen der Forderung nach „1000 Polizisten mehr für Wien” – aus der tangentialen Berührung wieder eine klare Seitwärtsbewegung wurde, und wir es vorzogen, mit unseren Kindern über die Wiesen des Volksgartens zu streifen, anstatt dem Hochamt am Rathausplatz unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Doch immerhin: Mit „Wien denkt Weiter” liegen wieder einmal fünfzehn Seiten kulturpolitischer Originalton vor, und bemerkenswerterweise wurden ein paar Mindeststandards moderner Politikentwicklung nicht unterschritten, die da wären: Strukturierte Einbeziehung externen Know Hows, Nennung der Prozessbeteiligten, Veröffentlichung mit Feedbackinteresse und öffentliche Diskussion. Der neckische Untertitel „Kultur. Für Wien.Für morgen. Für fast alle” hält mit dem Wörtchen „fast” sogar eine veritable Abwendung von jener „Kultur für alle” bereit, die in den Händen mancher Kommunen längst zur Legitimation für sämtliche „Christina-Stürmer-bei-freiem-Eintritt-am-Hauptplatz-plus Feuerwerk”-Events verkommen ist. Nun ist zwar nicht ganz klar, wie die Eröffnung des Festivals „Wean Hean” im Heeresgeschichtlichen Museum zu den Kapitelüberschriften: „Arbeit am Stadtprofil”, „Gegen Repräsentationskultur” oder „Impulse setzen in der Netzkultur” passt, doch eröffnet uns das Wiener Volksliedfestival mit dem dort stattgefundenen Abend „Aufmarsch” die rhetorische Möglichkeit auf den Ring, und von dort auf das Land, zurückzukehren. Bemerkenswerterweise adoptiert das Grundsatzpapier nämlich an mehreren Stellen einen Diskurs über das Lokale, der speziell im avancierten ländlichen Kulturleben der letzten Jahrzehnte eine zentrale Rolle spielte, und der – etwa mit dem „Festival der Bezirke” – nun in der Bundeshauptstadt angelangt ist. Neben aller anerkennenswerten Urbanität, Konfliktfreude und „polyethnischer” Orientierung des Papiers gilt die Aufmerksamkeit daher nun auch in Wien der „Unverwechselbarkeit” und sehr vertraut klingelt es plötzlich in den Ohren des Verfassers (2) wenn es um „regionalistische Buntheit” geht, die zwar dem „traditionellen” Lokalen entgegengestellt wird, aber dennoch jene „Prominentenkultur global agierender Kulturschaffender” ergänzen soll, an der es angeblich „in Wien nicht mangelt” (3). Die in diesem Abschnitt postulierte „Stärkung des Lokalen” wird etwas defensiv gegen „Globale Kulturmetropolen” gesetzt, die „drohen auch zur Import-Kultur-Metropole zu werden”, und kippt dort unfreiwillig in die Sprache des Bio-Marketing wo es heißt: „Für ein lebendiges und fruchtbares kulturelles Klima ist nicht zuletzt entscheidend, was vor Ort selbst wächst”. Hier wird sicher noch präziser formuliert werden, welche AkteurInnen und Aktionsformen gestärkt werden sollen, wenn man der Meinung ist, dass es „nur die lokale Moderne ist, die sich auf die konkreten Bedingungen vor Ort beziehen kann”. Man fühlt sich leicht herausgefordert hier ein „Hoch die internationale Solidarität” anzustimmen, doch sei fairer Weise vermerkt, dass an anderen Stellen von globaler Vernetzung die Rede ist. Es sind Gedanken wie diese, die die landflüchtigen Kommentatoren am Ring begleiten. Zu den Klängen der begleitenden Marschmusik führt ein Europaabgeordneter seine Bezirksgruppe an. Der lächelnde Kollege gibt mir die Erlaubnis ihn als ehemaliges Mitglied einer Blasmusikkapelle zu outen, kurz bevor ihm ein Exponent der Wiener Kreativwirtschaft mit lautem „Freundschaft” ein Schmuckabzeichen in die Hand drückt, auf dem in Abwandlung der Kampfparole ein Hoch auf die „kreative” Solidarität ausgerufen wird. Freundliche AktivistInnen verteilen rot-grüne Radieschen und Ai Wei Wei platziert bei der steirischen „Regionale” eine Arbeit auf dem Dachstein. Mittlerweile stehen wir alle irgendwie rauchend vor der Kirche.
Mehr Texte von Martin Fritz

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