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Wien und seine Gruppe. Gerhard Rühm zum Achtzigsten

„allgemein auf desinteresse und heftige ablehnung stossend, waren wir freunde, die alle dichteten und einander schätzten. Es brauchte nichts ‚festgelegt’ zu werden, denn wir verstanden uns, wenn wir einander kritisierten, so stets im bewusstsein eines exklusiven niveaus, auf dem bislang nur unsere eigenen kriterien angemessen und akzeptabel waren.“ In verschiedenen Konstellationen sind Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Konrad Bayer, Oswald Wiener und Gerhard Rühm, als illustres Quintett, im Duo oder Trio und auch allein hervorgetreten, und diesen Wechselgesang gerade sie als ihre Unverwechselbarkeit gepflegt – heute würde man sagen als ihr Alleinstellungsmerkmal. Gerade ein Jahrzehnt hat die Herrlichkeit gedauert, heute wirken sie, so sie nicht gestorben sind, als Solisten. Gerhard Rühm ist darüber jung geblieben. Gleichwohl wird er heute achtzig. © sfd / angelika krinzinger Rühms Text „das phänomen der ‚wiener gruppe’ im wien der fünfziger und sechziger jahre“, aus dem das Eingangszitat stammt, ist im Jahr 1967 geschrieben, und er fasst die Geschichte dieses veritablen Phänomens wunderbar zusammen. Einer breiten Rezeption zugänglich ist er dank jenem 800-Seiter, den Peter Weibel, treibende Kraft, Impresario, Kompilator der avantgardistischen Tendenzen in den späteren Sechzigern, für die österreichische Präsentation auf der Biennale di Venezia 1997 der Gruppe gewidmet hat. Der dickleibige Band stellte das Exponat dar, das im Pavillon zu sehen war, gestapelt auf Paletten, zur freien Entnahme, und es war ein Auftritt von eigener künstlerischer Qualität, wie das Volumen von den schwitzenden Besuchern durchs Gelände, auf die Vaporetti und in die Hotels geschleppt wurden. Allein die Übungen in Kleinschreibung verdeutlichen die Avanciertheit der Gruppe, wie sie der Sprache und ihrer Orthografie so etwas wie ein demokratisches Bewusstsein zu geben suchte, Egalität und kollektive Identität. Diese Literatur hat die Zauberformeln der orthodoxen Moderne eingearbeitet: das Kalkül mit dem Zufall und die Aleatorik, wie sie von Dada und Surrealismus kommen, den Hang zum Reduktiven und den Purismus, wie sie die Abstraktion und der Konstruktivismus entwickelten, und überhaupt das Spiel mit dem Vernachlässigten, Ephemeren, gegen den Kanon Gerichteten, das die Avantgarde immer schon betrieb. Was das für eine Gesellschaft war, in der und gegen die eine Kunst von solch ausgreifender Fasson entstand, lässt sich an einem Ereignis von März 1963 ersehen. Es hatte ein Mord stattgefunden, eine elfjährige Ballettschülerin, die an der Oper tanzte, war im ehrwürdigen Haus am Ring erstochen worden. Verdächtige wurden verhört, und so kam es zu einer ganz unfreiwilligen Gemeinsamkeit von Wiener Gruppe und Aktionisten, deren Programm Rühm und Bayer 1958 mit ihren unvergesslichen Zeilen „scheissen und brunzen/ sind kunsten“ schon auf den Punkt gebracht hatte. Jedenfalls wurden zum einen Artmann und Rühm und zum anderen Otto Mühl und Hermann Nitsch bei der Polizei vorgeladen. Sie hatten sich nichts zuschulden kommen lassen, außer, dass sie eine Ästhetik der Grausamkeit, des Exzesses oder der Obsessivität vertraten, als Künstler wohlgemerkt, nicht als Menschen. In einer notorischen Vorstellung einer Einheit von Kunst und Leben, die das Spießertum immer dann pflegt, wenn sie ihm im Zirkelschluss vom einen auf das andere Empörung, Verdacht oder gleich Schuldzuweisung gestattet, waren die vier ins Visier geraten. Es wurden auch Tausende anderer auf ihr Alibi hin befragt. Was die Tausende anderen aber nicht hatten, war eine Schlagzeile wie „Die Blutorgel-Maler brauchen Alibi“. Gerhard Rühm durfte zudem folgendes von sich in der Zeitung lesen: „Die Kriminalisten hatten einen Hinweis erhalten, daß der Wiener Lyriker... in einem Gedicht die Erregung eines Triebmörders nachempfindet. Da auch der Sexualmörder am Abend in die Stadt geht und dort sein Opfer durch Messerstiche tötet, schienen dem Anzeiger gewisse Parallelen zum Opernmord gegeben“. Kunst tritt auf den Plan damals, wenn sie als Anlass zur Denunziation taugt. Kultur und Öffentlichkeit hatten sich noch nicht, wie es später mit schlagendem Erfolg der Fall sein wird, miteinander geeinigt. Gerhard Rühm ist einer, der diesen Erfolg auf den Weg brachte.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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