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Contemporary Istanbul: Monumentales Gewimmel

Manche finden ja, dass Istanbul eine faszinierende Metropole sei. Plausible Begründungen dafür gibt es wohl keine. Andere nämlich, selbst gebürtige Istanbuler darunter, sehen das ohnehin ganz anders: Istanbul ist hässlich, chaotisch, laut, aggressiv und heruntergekommen. Grauenhaft. Die Messe aber, die heuer zum fünften Mal gelaufene „Contemporary Istanbul“ (CI), gehört zu den interessantesten Messen – weil sie frisch und lebendig ist und weit mehr als westlichen Mainstream zeigt. Hier hat’s großes Potenzial, und, wie Tariq Yolari (Berlin Art Projects), der mit der Messe eng verbunden ist, sagt, dass man gewillt ist, dieses kräftig zu fördern. Natürlich ist die CI zuvorderst eine Leistungsschau der sich schnell aber gut entwickelnden türkischen Galerienszene. Die unter anderem von der privaten AKBANK gesponserte Schau konnte praktisch schon von Anfang an auf eine gute internationale Beteiligung verweisen. Heuer nahmen 82 Galerien teil, davon 35 aus dem Ausland. Das größte Gäste-Kontingent stellte Deutschland, mit 13 Galerien, acht davon aus Berlin. A propos Berlin: Zum wiederholten Male gab es eine in die Messe integrierte Sonderpräsentation „Art from Berlin“ (sogar mit einer „Berlin Lounge“), organisiert vom Landesverband Berliner Galerien und gefördert mit EU- und Mitteln des Berliner Senats: Ein sehr vernünftige Verwendung von öffentlicher Geldern! Das sollte unbedingt Schule machen, die Berliner haben schon gute Erfahrungen damit. Österreich hatte echt Pech. Die Kunstwerke, die Michela Stock aus Wien an den Bosporus schickte, kamen dort nie an, die Koje blieb leer. Das wird wohl noch Anwälte beschäftigen. Die Messe war gut besucht, von einem sehr interessierten Publikum. Der Berliner Galerist Werner Tammen zum artmagazine.cc: „Die jungen, erfolgreichen, Englisch sprechenden Türken sind wissbegierig und dem Neuen sehr zugetan.“ Es ist auch ein Publikum, das zunehmend toleranter und freier wird. Kein Problem Akte und Erotisches auszustellen. Ein Beispiel wäre etwa Elkhazens „Le Baiser“, eine Fotoarbeit, die – bei Marc Hachem aus Paris – ein nacktes Paar nächtens in intimer Umarmung zeigt (S/W, Diasec, 80x120 cm; drei Mal verkauft). Deschler und Tammen / Gaulin & Partner gehörten – nebst anderen – zu den Galerien der Sektion „Art from Berlin“. Beide waren schon zu Beginn sehr zufrieden. Tammen hatte einen Schwerpunkt in den farbig gefassten Tonfiguren von Volker März, die schon auf der Vernissage weggingen wie Kletzenbrot im Advent. Ihr fröhliches, absurdistanisches Treiben trifft wohl auch in der Türkei den Nerv der Zeit (Preise etwa 1700 bis 2300 Euro, größere Werke höher). Marcus Deschler konnte eine neue Arbeit von Xenia Hausner in eine Sammlung nach Ankara verkaufen. Der Sammler ist aber auch viel in Berlin – ein erfolgreicher Fall von Internationalität. Auf dem Stand gab es auch die matrixorientiert gepixelten Städte- und Landschaftsbilder von Holger Bär, die von einer Art Plotter auf die Leinwand gebracht werden, mit all den hübschen kleinen Ungenauigkeiten und Verschiebungen, die eine gewollt nicht allzu präzise kalibrierte Spritzdüse so verursacht: Die malende Maschine konterkariert ihre erwartbare Maschinenhaftigkeit, ein beeindruckendes Konzept. Von Rainer Fetting gab es bei Deschler Bilder und Skulpturen, Elvira Bach und Salomé waren sellwollsell auch dabei. Von den Berlinern jenseits des Förderprogramms beeindruckte Caprice Horn mit ihrer Solo-Schau der Gruppe „Artists Anonymous“, deren verfremdete Bildszenerien einen Liebhaber fanden. Caprice Horn über Istanbuls Messe: „Hier geht es gut, es gibt viel Interesse und sehr viel Geld. Das Publikum ist hervorragend, echt tolle Sammler. Typisch wohl für eine Boom City.“ Verfremdungen als Verzerrungen gibt es auch bei Martin C. Herbst. Der österreichische Künstler (auf der CI bei Krampf aus New York) nutzt, Pistoletto und Anish Kapoor grüßend (aber nicht imitierend), spiegelnde und konvexe wie konkave Flächen, um sie mit häufiger auch dadurch verzerrten, manchmal verschwommenen Gesichtern und Gestalten zu versehen. Hier denkt einer über unsere Seh- und Sichtweisen nach. Berlin Art Projects zeigte u. a. den türkischstämmigen, in Moosburg geborenen Ergül Cengiz, der mit durchstrukturierten Bildern von Tieren im Gatter über Freiheit, Kultur und Natur reflektiert, dazu Fotos von Ismail Necmi, der unter anderem Homosexualität thematisiert. Wie gesagt: In der Türkei wird man freier, die drängenden Fragen der Zeit stellen sich in der Kunst auch hier. Aus Armenien kommt Armen Gevorkian (Sonderstand „Art from Armenia“), in dessen Bildern melancholische Figuren, gestaltet gleichsam wie Hommagen an Oskar Schlemmer, die in großen Bildern – mit Einflüssen von Meckseper – seltsam stille Parties feiern. Das ist nur ein Beispiel für eine sich zwischen indigener Tradition und westlicher Kultur neu bildende Kunst, die Themen bearbeitet, die mit herkömmlicher Volkskunst nicht zu leisten sind. Da hat man Spaß, das ist spannend und lässt einen neugierig auf die Zukunft sein. Koreanische Kunst ist auf einem stillen Welteroberungszug. Seo Jeoung Hak gehört zu den Super-Ästheten mit seinen Arbeiten mit (nicht auf!) Papier, die in Korea eine lange Tradition haben (und der auf der CI von A&B aus Seoul und von Baraz aus Istanbul vertreten wurde; Preise im Bereich von 7000 Euro). Seine meditativ-dekorativen, aber alles andere als simplen Werke haben international viele Freunde. Ütopya Platform (Istanbul) präsentierte mit Gazi Sansoy einen echten Renner. Seine atemberaubenden, frechen, dymnamisch bewegten Pasticchios aus Ost- und Westkunst in der Form großformatiger Wimmelbilder verkauften sich sehr gut. Überhaupt scheint man in der Türkei wuselige Bilder zu mögen: Die in viele Flecken zergliederten, wie solarisiert wirkenden Istanbul-Panoramen von Devrim Erbil in monumentalen Größen beeindrucken in der Tat. So sehr, dass ein Sammler sich das größte um 360.000 TL (etwa 180.000 Euro) sicherte. Als Bild ist Istanbul viel eher auszuhalten...
Mehr Texte von Gerhard Charles Rump †

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Contemporary Istanbul
25 - 28.11.2010

Contemporary Istanbul
Istanbul, Kasimpasa, Halic Camii Kebir Mahallesi Taskizak, Tersane Cd. No:5
Tel: +90 212 244 7171 (117), Fax: +90 212 244 7181
Email: info@contemporaryistanbul.com
https://contemporaryistanbul.com/


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