Andrea Winklbauer,
Stars, Kunst und Filmgeschichte
Die Viennale 09 beginnt eine Woche später als ihre Vorgängerinnen in den vergangenen Jahren. Der Grund ist ein löblicher: Weil es dadurch leichter war, noch Filme ins Programm zu nehmen, die man erst beim Filmfestival von Venedig hatte sehen können. Der Zuwachs zum Programm lohnt sich jedenfalls: nicht nur Jessica Hausner schon viel besprochener neuer Film „Lourdes” wird gezeigt, sondern etwa auch „White Material” von Claire Denis, „36 vues de Pic Saint Loup” von Jacques Rivette, der Zombie-Film „Survival of the Dead” von George A. Romero, Werner Herzogs Abel Ferrara-Remake „Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans” und „Zanan Bedoone Mardan“, der erste Spielfilm der Künstlerin Shirin Neshat. Ingesamt wird wieder die bewährte Mischung aus Staraufgebot, aktueller Filmkunst und Filmgeschichte offeriert. Schon allein mit den Tributes an die Schauspielerin und Derek Jarman-Muse Tilda Swinton, den philippinischen Regisseur Lino Brocka (1939-1991) und den amerikanischen Schauspieler und Regisseur Timothy Carey (1929-1994) sowie dem Special über die chinesische Filmemacherin Guo Xiaolu und die Retrospektiven des Österreichischen Filmmuseums („The Unquiet American“) und des Filmarchivs Austria („Early Austrians: Österreichisches Kino 1906-1918“) wären alle drei Ansprüche bereits erfüllt.
Der vermutlich skandalträchtigste Film des kommenden Festivals ist bestimmt nicht dessen aufregendste Entdeckung, und das nicht nur, weil Lars von Triers Horrordrama „Antichrist“ bereits am 5. November regulär in den Kinos anläuft. Neben spekulativ brutalen Szenen genitaler Verstümmelungen und dem generellen Eindruck von fataler Einfallslosigkeit ist es vor allem die geschmacksverirrte Anfangssequenz zu einer (spätestens seit „Farinelli”) im Kino wohl bekannten Händel-Arie, die drückende Zweifel am Künstlertum des Dänen aufkommen lässt. Bleibt man beim Thema der schwer gestörten Paarbeziehungen, so besitzt etwa das österreichische Drama „Koma” von Ludwig Wüst weit mehr Prägnanz und Aussagekraft: Ein Mann verschwindet aus seinem Leben und verlässt seine Familie, um mit seiner heimlichen Geliebten ein spätes Glück – und vielleicht so etwas wie Vergebung – zu suchen, die sich, aufgrund der fatalen Auswirkungen ihres gemeinsamen Geheimnisses, nie mehr einstellen können. In banal anmutenden Bildern scheinbaren Alltags entsteht das Sittenbild einer verhängnisvollen Beziehungsgeschichte, deren volle Wucht erst am Ende enthüllt wird.
Zu den schon erwähnten klingenden Namen dieser Viennale zählen auch Joel und Ethan Cohen („A Serious Man”) oder Francis Ford Coppola („Tetro”). Vom Gegenkultur-Kultregisseur Peter Whitehead stammt ein neuer Spielfilm mit dem verführerischen Titel „Terrorism Considered as One of the Fine Arts”. Jane Birkin kommt auch dieses Jahr als Schauspielerin („36 vues de Pic Saint Loup”) und zusätzlich - erstmals überhaupt - als Regisseurin eines Spielfilms („Boxes”) nach Wien. Auch zwei weitere Regiedebüts seien hier empfohlen: Die sehr französisch-luftige Musical-Dramödie „Mon coursier hors d’haleine” von Christophe Clavert, die Geschichte einer versuchten Inszenierung eines Beaumarchais-Theaterstücks, und Oren Movermans wesentlich tragischerer „The Messenger”, in dem Woody Harrelson als ausgemusterter Irak-Veteran zum Überbringer von Todesnachrichten an die Angehörigen von getöteten Soldaten wird.
Auch auf dem Dokumentarfilmsektor ist einiges zu erwarten: mit neuen Filmen von Harun Farocki (das Ziegelei-Lehrstück „Zum Vergleich”), Thomas Heise (die DDR-Rekapitulation „Material“ aus Archiv-Überresten), Frederick Wiseman („La Danse - Le ballet de l’opéra de Paris”), Werner Herzog (die Antarktis-Forscher-Doku „Encounters at the End of the World”) oder Abel Ferraras „anderes” Städteporträt „Napoli Napoli Napoli”. Peter Nestler legt mit „Tod und Teufel” ein sehr sehenswertes, differenziertes Porträt seines eigenen, nicht alltäglichen Großvaters vor: des schwedischen Forscher, Fotografen und Abenteurers mit naiver Begeisterung für die Nazi-Ideologie Eric von Rosen (1879-1948). Und der Brasilianer José Padilha, 2008 für seinen Spielfilm „Tropa di elite” mit dem Goldenen Bären in Berlin ausgezeichnet, begleitet in „Garapa” drei brasilianische Unterschichtfamilien bei ihren Versuchen zu überleben: Von Hunger und Not zerrieben, vom Staat allerhöchstens zur Kenntnis genommen, ist das einzige Grundnahrungsmittel, das die Eltern ihren vielen Kindern regelmäßig beschaffen können, Garapa – Zucker in Wasser aufgelöst. Angesichts der unsentimentalen, in sprödem, körnigem Schwarzweiß aufgenommenen Bildern des realen Horrors, wie Menschen vegetieren und verhungern, versagt nicht nur die Sprache. Auch manch bejubelter Spielfilmhorror erweist sich daneben als null und nichtig.
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