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Memoiren einer Sozialhilfeempfängerin

Wer sich von der Kompilation autobiografischer Texte Tracey Emins eine Darstellung ihrer Kunstproduktion im engeren Sinn erwartet, der wird von „Strangeland“ enttäuscht werden: Die Kunstwelt kommt darin bloß in Andeutungen, als Szene-Gossip vor. Einmal, als sie ihren besoffenen, peinlichen Auftritt bei einer TV-Diskussion beschreibt, einmal, als es um ein Sex-Drugs-and-Rock’n’Roll-Partywochenende in New York geht, und einmal, als sie ohne weitere Ausführungen konstatiert: „Die letzten sieben Jahre hatte sich mein Leben ausschließlich um die Akademie und die Kunst gedreht.“ Die 186 Seiten vor dieser Feststellung hat man jedenfalls nichts davon mitbekommen. Das macht aber nichts. Denn ihre Kunst erschließt sich gerade über ihre radikal persönlichen – oder zumindest scheinbar persönlichen – Notizen und Anekdoten. Tracey Emin: Das ist die Lieblingstochter ihres türkischen Vaters, der insgesamt zehn Kinder hat. Die „Quotenalkoholikerin mit einer besonders schweren Variante des Tourettesyndroms“ auf einer ansonsten langweiligen Nil-Kreuzfahrt. Die Bewohnerin einer völlig vermüllten Bude. Die Schwangere, die abtreibt und dabei seelische Qualen aussteht. Die begeisterte jugendliche Provinzdisco-Besucherin. Das Vergewaltigungsopfer. Frei von Plattitüden ist Emins Text zwar nicht – so heißt es etwa einmal, das Leben sei es wert, „gelebt zu werden“; ein andermal fordert sie dazu auf: „Verleugne nicht diejenigen, die du liebst.“ Und bisweilen scheinen ihre moralischen Ansprüche ihrem eigenen ausschweifenden Sexleben entgegenzustehen – etwa, wenn sie über Untreue klagt. Sexualität ist überhaupt das große Thema, das sich durch Buch wie Kunst zieht – Emin steht ihr diffus gegenüber. Emins Geschichten sind voller Härte – und beißender Selbstironie: „Der Mensch lebt nicht vom Wodka allein“, heißt es da, oder „Mein größter Coup in den letzten Wochen war es, Mitglied in der Videothek zu werden.“ Das Bild, das Emin von sich selbst zeichnet, hat nur wenig mit der glamourösen Starkünstlerin zu tun, als die sie wahrgenommen wird. Über weite Strecken hin könnte man eher meinen, dass man die Memoiren einer Sozialhilfeempfängerin liest. Doch gerade das macht diesen Text so spannend – auch wenn die Übersetzung, die etwa statt des Valentinstags „Sankt Valentin“ feiert, ein gewisser Wermutstropfen ist. Ob Emins Autobiografie tatsächlich der Realität spricht, das sei freilich dahingestellt. Eigentlich ist es ohnehin irrelevant.
Mehr Texte von Nina Schedlmayer

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