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Sejla Kameric, Ritornell - Neun Geschichten: Auf vertrautem Terrain

Begegnungen mit einem Einhorn hat man nicht alle Tage, insofern löst sein Anblick auf Anhieb allerlei Empfindungen aus. Zur seltsamen Vertrautheit gesellt sich das Befremden, zumal der weiße Prototyp aus der Fabelwelt hier gegen ein schwarzes Modell getauscht wurde. Und das ist mit den Geschichten von Unschuld und Unsterblichkeit nicht ganz kompatibel. Olaf Nicolais schaurig-schöne Skulptur „La Lotta“ (ital. „der Kampf“) ist ein präpariertes und mit Horn versehenes Pferd, das auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Sterben balanciert: Es strahlt Körperwärme aus und hat zugleich mit einer Temperatur von knapp über 42 Grad Celsius längst die tödliche Marke erreicht. Der aus der Musik entlehnte Ausstellungstitel „Ritornell“ bezeichnet das wiederkehrende Motiv und dient als Metapher für das Nach- und Neuerzählen von Erfahrenem, Erträumtem oder wenigstens Tradiertem. Nach Gilles Deleuze und Félix Guattari könnte man darin sogar Zuflucht suchen, ein Zitat aus „Tausend Plateaus“ wird im Ausstellungstext bemüht: „Ein Kind, das im Dunkeln Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. […] Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges, für ein stabilisierendes Zentrum im Chaos.“ Künstlerisch besehen wandelt sich die Zuflucht mitunter aber auch in eine Flucht aus dem Gewohnten oder Gegenwärtigen: Deimantas Narkevicius spielt im Video „Once in the XXth Century“ die TV-Aufnahmen von der Demontage einer Lenin-Statue in Vilnius rückwärts ab und vermittelt so den Eindruck der umjubelten Errichtung des Denkmals. Erzen Shkololli hisst „Die Albanische Flagge auf dem Mond“ als ironischen Kommentar zur nationalistischen Fantasie eines „Großalbaniens“. Fernando Bryce seziert und enthierarchisiert historische Fakten, indem er Artikel aus der „East Asia Review“ aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges in Zeichnungen überträgt. Amelie von Wulffen möbliert ihre Gemälde von verschachtelten Räumen und Ruinen mit traumatischer Erinnerung. Und der 2006 verstorbene schwedische Künstler Ola Pehrson hat ein verkleinertes Modell seines Elternhauses gebaut, durch dessen wohlig erleuchtete Fenster man die Geburtstagsparty seiner Mutter beobachten kann. Wie um in einem abschließendem Statement noch einmal mit Vehemenz auf die sinnliche Erfahrbarkeit ihres vom Denken geprägten Programms hinzuweisen, zeigt Silvia Eiblmayr in ihrer letzten Ausstellung neun Geschichten, deren konzeptuelle Ansätze und gesellschaftlich relevante Fragestellungen auch auf Gefühlsebene funktionieren. Die parallele Präsentation der bosnischen Künstlerin Sejla Kameric schließt nahtlos an das Konzept der wiederkehrenden Motive an. In der Fotoserie „Red“ zeigt Kameric die Kriegsnarben an den Hausfassaden Sarajewos, in einer fiktiven filmischen Inszenierung („What Do I Know“) füllt sie das Haus der Großeltern liebevoll mit den Geschichten und Geistern der Vergangenheit, die in traumhaften Sequenzen von Kindern dargestellt werden. Die menschliche Erinnerung sucht eben gern in kleinen Unschärfen Zuflucht.
Mehr Texte von Ivona Jelčić

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Sejla Kameric, Ritornell - Neun Geschichten
22.11.2008 - 25.01.2009

Taxispalais Kunsthalle Tirol
6020 Innsbruck, Maria-Theresien-Str. 45
Tel: +43 512 594 89 401
Email: info@taxispalais.at
http://www.taxispalais.art
Öffnungszeiten: Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr


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