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Eine Archäologie des Sehens

Was großen Städte dieses gewisse Etwas gibt, sind nicht unbedingt nur die Landmarks. Es sind auch die kleinen Zeichen, die sie unverwechselbar machen: Beschriftungen, Verkehrsschilder, Piktogramme – kurz: die Organisationsformen des Zusammenlebens, die in jeder großen Stadt ein je eigenes Bild abgeben. Und es sind die Ereignisse, von denen wir wissen, dass sie sich hier oder dort zugetragen haben. Im Fall von Los Angeles kommen zu den realen Geschichten unzählige fiktive, die uns nicht weniger real erscheinen, denn Los Angeles ist Filmstadt und Stadt im Film. Der Filmemacher und Filmtheoretiker Thom Andersen hat vor einigen Jahren in seinem beeindruckenden und viel beachteten Essayfilm „Los Angeles Plays Itself“ nicht nur auf diese Tatsache hingewiesen. Die dreistündige, fast nur aus Filmausschnitten bestehende Arbeit ist so etwas wie eine Vorlesung über die vielen Rollen und Gesichter von Los Angeles im Film: als jeder beliebige Ort auf der Welt, als namenlose Stadt und natürlich als Los Angeles selbst. Andersen zeigte u.a., wie in Hollywood-Produktionen die grandiosen Ikonen der Moderne-Architektur konsequent als Residenzen von Gangstern diskreditiert wurden und verfolgte kritisch die Entwicklung ganzer Stadtteile quer durch die Jahrzehnte ihres Auftretens im Film. Kürzlich kramte der Filmemacher erneut in seinem Fundus und wählte als Kurator der diesjährigen Viennale-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum ein Programm aus, das über die Darstellung von Los Angeles in seinem eigenen Film hinaus geht. Zwar scheinen darin sehr wohl auch wieder Klassiker wie die Billy Wilder-Filme „Double Indemnity“ und „Sunset Boulevard“, Joseph von Sternbergs „The Salvation Hunters“, Filme von Harold Lloyd und Laurel & Hardy oder Edgar G. Ulmers „Detour“ auf. Neu sind mehrere Programme mit Dokumentar-, Kurz-, Experimental- und Studentenfilmen, die alternative Blickwinkel auf Los Angeles eröffnen. Maya Deren, Stan Brakhage und Kenneth Anger kommen darin ebenso vor wie „L.A. Plays Itself“, ein nicht unkritischer schwuler Porno aus den frühen Siebzigern. Mit „The Exiles“ von Kent Mackenzie entdeckte Thom Andersen ein authentisches Porträt eines (Ende der Fünfziger) vorwiegend von exilierten Indianern aus Arizona bewohnten Stadtteils wieder. Dieser Film, der in einer restaurierten Fassung gezeigt wird, steht am Anfang einer Reihe von kritischen Filmen über das wahre Leben in Los Angeles, von denen in der Retrospektive noch einige weitere zu sehen sind (z.B. „Bush Mama“, „The Savage Eye“ oder der wütende Blaxploitation-Film „Sweet Sweetback’s Baadasssss Song“). Nicht zu vergessen sind Filme wie die Autoraser-Crash-Orgie „Gone in 60 Seconds“ von 1974: "93 Autos in knapp 100 Minuten zu Bruch gefahren", lautet die Kurzbeschreibung im Programmheft. Hier zeigt sich eine weitere Seite von Los Angeles im Film: als Austragungsort von Wut und Zerstörungslust. Denn nicht nur Autos, auch markante Gebäude und sogar ganz Los Angeles mussten im Film regelmäßig dran glauben. Es sei nicht so gewesen, dass die Filmemacher die Los Angeles City Hall für das Empire State Building gehalten hätten, meint Thom Andersen im Off seines eigenen Films. Los Angeles und seine Landmarks lägen Hollywood eben einfach nur näher.
Mehr Texte von Andrea Winklbauer

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