
Jens Kastner,
Dass es noch etwas anderes gibt
Er habe keine Kunsttheorie. Er habe nichts gegen Theorie, er habe nur eben selber keine. Die beiden Reden, in denen Max Frisch das sagt und die er 1981 in New York gehalten hat, sind theoretisch trotzdem sehr aufschlussreich.
In einfachen, weil zu übersetzenden und auf Englisch vorzutragenden Worten stellt sich der Autor die Frage nach schriftstellerischem und insgesamt künstlerischem Engagement neu. Getreu seiner Devise, die Menschen, für die er schreibt, als PartnerInnen zu betrachten, tut er dies am Beispiel des eigenen Werdegangs und Werkes. Seine ehedem „engagierte Kunst“ – und damit die eines ganzen Jahrzehnts, der 1960er Jahre nämlich – lehnt er ab. Aber das sei keine Form der Resignation. Nur eine Art intellektuelle Umverteilung zugunsten journalistisch-politischer Eingriffe. Die Kunst aber erhalte ihre soziale Funktion – danach fragt die zweite Vorlesung – nicht durch politische Inhalte. Selbst Picassos „Guernica“ habe nutzlos in New York rumgehangen, als der senile Diktator Franco auch noch seine letzten Todesurteile unterschrieb. Die direkte politische Intervention von Werken in den Lauf der Geschichte sei äußerst rar. Wer als KünstlerIn aber meine, mit Politik nichts am Hut zu haben, daran lässt Frisch keinen Zweifel, habe seinen „politischen Beitrag schon geleistet“, nämlich zu Gunsten der Herrschenden. (Frisch: „Ich bin Sozialist“) Dass es um die Botschaft in der Kunst aber nicht gehe, macht Frisch am Titel gebenden Beispiel deutlich: Warum das Schwarze Quadrat von Malewitsch in der Eremitage zu Zeiten der Sowjetunion nicht gehängt, sondern im Keller verstaut war. Frisch zitiert eine Eremitage-Angestellte, die erklärt: Gerade weil die Bevölkerung es neben dem sozialistischen Realismus nicht verstanden hätte, wäre es bedrohlich gewesen. Denn sie würde sehen, „dass es noch etwas anderes gibt“.
Mindestens Irritation, bestenfalls Utopie. Dafür also sei die Kunst gut. Das ist nicht unbedingt eine neue Ansicht, aber nur wenige bringen sie so sympathisch selbstreflexiv zum Ausdruck wie der New Yorker aus der Schweiz. Zu fragen bliebe selbstverständlich: Welche (Art von) Kunst? Mit welchen Mitteln? Unter welchen Bedingungen von Produktion, Rezeption und Distribution? Und in welcher Situation? Aber dafür gibt es schließlich Kunsttheorie.
Max Frisch
Schwarzes Quadrat
Zwei Poetikvorlesungen
Herausgegeben von Daniel de Vin unter Mitarbeit von Walter Obschlager. Mit einem Nachwort von Peter Bichsel
92 Seiten, Bütten-Broschur
Frankfurt a. M. 2008 (Suhrkamp Verlag)
Euro 14,80 [D] / Euro 15,30 [A] / sFr 26.40
(ISBN 978-3-518-41999-1)