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Die Utopie Film. 100 Neuerwerbungen

Eine Hochsommernacht in Wien. Frauen mit ausladenden Kopfbedeckungen und Männer in Großvateranzügen stehen vor dem Kasperltheater, fahren Karussell, bestaunen die Frau ohne Unterleib, die Kunststücke des Magiers und noch viel, viel mehr. In zwei kurzen Sequenzen verfließen zudem die Bilder dieser Menge zu schillernden, sich wie in einem Strudel atemlos überschlagenden Erinnerungskonserven in Schwarzweiß. Das nur etwa 5 Minuten lange Fragment mit der zentralen Praterszene, der einzigen überhaupt erhaltenen aus dem verlorenen Film „The Case of Lena Smith“ (1929) des aus Wien stammenden Hollywood-Regisseurs Josef von Sternberg ist nur ein Glanzpünktchen des 100 Filme starken September-Programms im Filmmuseum in Wien. Aber was für eines: So kurz die erst vor wenigen Jahren in China wieder gefundene Szene ist, lässt sie doch einen tiefen Blick in die allererste von Sternbergs filmischen Neukonzeptionen der Stadt seiner Kindheit um 1900 zu. Was könnte - in nuce - besser vermitteln, was mit der Idee der „Utopie Film“ gemeint ist? Schon einmal, vor genau vier Jahren, gab im Unsichtbaren Kino am Albertinaplatz das bei Alexander Kluge entlehnte Motto einem Filmprogramm den Rahmen vor. Inzwischen zeigt das Filmmuseum auch ein wöchentliches Schwerpunktprogramm unter diesem Titel. Doch waren es 2004 hundert „Vorschläge“, so werden diesmal hundert Neuerwerbungen gezeigt: Ankäufe, Schenkungen, Neurestaurierungen von Filmen aus den eigenen Beständen sowie Deposits von Filmemachern, Produktionsfirmen und öffentlichen Stellen seit 2002. Nichtsdestoweniger geht es auch diesmal um den Prozess der Filmgeschichtsschreibung und Kanonisierung. Und da die „Utopie Film“ als Programmthema darauf abzielt, „das, was an Versprechen in der Filmgeschichte enthalten“, aber „zu wenig bekannt“ ist (Alexander Kluge), als Möglichkeitsform vor Augen zu führen, lassen sich auch die längst kanonisierten Werke des Programms nicht einfach als schon gesehen abhaken: Wer kann denn sagen, was Eisensteins „Bronenosec Potemkin“, Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ oder Andrej Tarkovskijs „Zerkalo“, zumal in Gegenüberstellung mit anderen Filmen, nicht jetzt erst an bisher ungeahnten, ungesehenen „Versprechen“ frei geben? Erworben wurde tatsächlich eine Reihe von wichtigen Werken der Filmgeschichte. Außer den schon genannten sind darunter Buñuels/Dalís restaurierter Surrealismus-Klassiker „Un chien andalou“, Jean Renoirs „La Règle du jeu“, Roberto Rossellinis „Germania anno zero“, Billy Wilders „Sunset Boulevard“, Peter Lorres einzige Regiearbeit „Der Verlorene“, Luis Buñuels perverse „Belle de Jour“, David Lynchs surrealer „Eraserhead“ und Michelangelo Antonionis „Professione Reporter“, Agnès Vardas „Sans toit ni loi“ oder Hayao Miyazakis Anime „Sen to Chihiro no kamikakushi“ (Chihiros Reise ins Zauberland). Weniger bekannte, aber nichtsdestoweniger in den letzten Jahren aufgefallene Werke wie die Experimentalfilme „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen“ von Gerhard Friedl und „Mosaik Méchanique“ von Nobert Pfaffenbichler stehen ebenso auf dem Programm wie die 10 Minuten „James Dean Screen Tests“ von Nicholas Ray und Elia Kazan oder „Eruption volcanique à la Martinique“, ein früher Film von Georges Méliès aus dem Jahr 1902. Sieht man auch noch die Kombinationen der einzelnen Werke, steht zu befürchten, dass man aus dem Filmmuseum an Septemberabenden überhaupt nicht mehr herauszubekommen sein wird, zumal auch seit kurzem die kongeniale Umgestaltung von Foyer und Außenwand durch Architektin Gabu Heindl fertig ist: Endlich durch vergrößerte Einschnitte zum Stadtraum hin akzentuierter geöffnet, behauptet sich das Filmmuseum nun auch am Baukörper des Albertina-Gebäudes gegenüber seinem dominanten Nachbarn weithin sichtbar als Institution.
Mehr Texte von Andrea Winklbauer

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