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Fußball ist Krieg

Liebes Tagebuch! Heute ist ein wieder ein neuer Tag. Und ich bin von neuem guter Dinge, denn ich weiß, dass Deutschland heute verlieren wird. Diesmal ganz bestimmt, ehrlich. Es kann nämlich auch gar nicht anders sein, weil wenig bis fast gar nichts dafür spricht, dass die Türken heute gewinnen werden – ungefähr so wenig, wie letztens gegen die Portugiesen gesprochen hat. Und man weiß ja, wie es dann gekommen ist. Na eben. Trotzdem – trotz ihrer vielen gesperrten und verletzten Spieler und vor allem trotz ihres sogenannten Tormannes – werden die Türken heute das Böse bezwingen. Auch wenn ich mir als geschichtsbewusster Österreicher natürlich nie träumen lassen sollte, die Türken – exakt 325 Jahre nach ihrem letzten Versuch, die Tore der Stadt zu beschießen – in Wien siegreich einziehen zu sehen: Der Islam kehrt wieder ham, wie es dann in finaler Abwandlung eines ziemlich besinnungslosen Spruches heißen könnte. Die wirklich alptraumhafte Alternative wäre allerdings, dass die Deutschen erneut triumphal in Wien einmarschieren. Und das möchte man sich als guter, geschichtsbewusster Österreicher schon gar nicht vorstellen wollen. Wehret der Wiederholung! 18 Uhr Den ganzen Nachmittag über Schlachtgesänge einstudiert. Dazwischen noch mal kurz beim türkischen Bäcker, um die Stimmung bei unseren Kombattanten auszuloten. Der Bäcker, Typ Fatih Terim, nur zusätzlich mit einem prächtigen Schnauzer ausgestattet – also dem Gegenteil dessen, was Luca Toni seit neuestem auf seiner Oberlippe spazieren führt – und von so vulkanischem Temperament, dass er seinen Backofen bloß mittels Eigenenergie zu befeuern scheint, ist gut drauf. Er hat seine Betriebstemperatur bereits erreicht und spuckt Gift und Galle. Leider spuckt er auch beim Sprechen. Mit dadurch keineswegs gekühltem Mütchen verlasse ich die Backstube, die heute irgendwie nach Pulverdampf riecht. 22 Uhr 30 „Fußball ist ein Spiel, das 90 Minuten dauert und am Ende die Deutschen gewinnen.“ Gary Lineker Auch wenn uns die geradezu orwellesk anmutende „Weltregie“ – getreu ihrem Motto, alles Unerfreuliche und den Eindruck eines familienfreundlichen Fußballs Gefährdende (worunter für sie humorloserweise auch allfällige Flitzer fallen) auszublenden – den traurigen Anblick eines guten Teils des Spiels erspart hat, so konnte man sich doch davon überzeugen, dass diese alte und schicksalhaft-ewiglich ins Grün getretene Kicker-Weisheit noch immer Gültigkeit besitzt. Da stürmen die Türken wie zu ihren besten Zeiten, knacken gekonnt die deutsche Abwehrfestung, wobei sie den alten Herrn Lehmann noch viel älter aussehen lassen, kassieren als Ausgleichstreffer die präzise Kopie des ersten deutschen Portugal-Tores (ja haben die denn kein Fernsehen?), kassieren wie aus dem Nichts ein weiteres Tor, bei dem der alte Herr Rüstü in vollständiger Missachtung seines fortgeschrittenen körperlichen Verfalls sehr jugendbewegt durch den Strafraum segeln wollte (und sich Klose den Ball wieder einmal nur auf den Kopf fallen lassen musste), kämpfen sich in schon gewohnter Manier wieder zurück und erzielen kurz vor Ende den hochverdienten Ausgleich, und was geschieht dann? Dann schießt der schlechteste deutsche Spieler des Tages, der sich die ganze Zeit über – man sollte sich billige Namenswitze ja eigentlich versagen – äußerst lahm über das Feld schleppte und ständig übertölpelt wurde, den Siegtreffer. In der allerletzten Minute! Nicht einmal dieses Privileg gönnen sie also den braven Comeback- und Last-Minute-Türken. So sieht wirklich das Böse aus. Das Böse, das nun aber wirklich von den Russen gestellt und niedergerungen werden muss. In der finalen Schlacht um Wien. Das hat schließlich schon einmal funktioniert.
Mehr Texte von Peter Kunitzky

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