Werbung
,

Berlin, am 19. Juni 2008

Liebes Tagebuch! Heute ist ein schöner Tag, denn heute ist der Tag der Rache. Heute wird endlich einmal Gerechtigkeit herrschen, das Gute wird obsiegen und das Böse vergehen. Das weiß ich ganz bestimmt. Es kann auch gar nicht anders sein, weil alles, aber wirklich alles dafür spricht, dass Deutschland heute verliert, dass also Portugal für das arme Österreich Vergeltung üben wird, das doch so schändlich von seinem großen Nachbarn um den schon greifbar nahen Aufstieg ins Viertelfinale betrogen wurde. Wenn nur nicht dieser verd... Ballack ... und auch noch durch einen solchen Glücksschuss! Na ja, alles einerlei. Heute wird diesem miesen Spiel schließlich ein Ende bereitet, von Portugiesen, die uns Österreichern durchaus näher scheinen, als es die Geographie eigentlich wahrhaben will: beides ehemals stolze Bürger wahrer Weltreiche, in denen die Sonne schier nicht unterging; und dann der schmerzliche Verlust der äußeren Größe, dessen Erfahrung sich dem jeweiligen Volkscharakter so tief eingeprägt, aber letztlich doch zu unterschiedlichen kulturellen Verarbeitungsleistungen geführt hat: der Fado dort, das Geraunze da; und nicht zu vergessen die gemeinsame Tradition des technisch feinen Fußballs, insbesondere verkörpert in der Figur des gelernten Straßenkickers, als da wären: ein Ronaldo oder ein Nani auf portugiesischer Seite und ein Sindelar und Stojaspal und Prohaska auf österreichischer Seite. Ist doch eigentlich gar nicht so lange her, dass wir das auch konnten. Na eben. Die Sonne scheint. Mein Herz lacht. 18 Uhr Die Sonne scheint noch immer. War noch mal kurz im Wettbüro, um ein kleines Vermögen auf Portugal zu setzen und damit meine intimen Einsichten in den unvermeidlich gerechten Lauf der Dinge auch in einen persönlichen Vorteil umzumünzen: Schmerzensgeld für die seelischen Wunden, die mir durch unser Ausscheiden bereitet wurden, sozusagen. Und ein todsicherer Tip, denn wenn es einen Gott gibt, muss er heute einfach für die Portugiesen die Daumen drücken. Die sind außerdem auch alle brav katholisch. 20 Uhr 45 Die Mannschaften laufen aufs Feld, und nun ist es amtlich: Frings fehlt. Dieser verd... Ballack ist somit um seinen Zwilling gebracht, die gefürchteten Dioskuren sind getrennt. Eigentlich bräuchte man jetzt gar nicht mehr anzupfeifen, das Spiel scheint bereits vorab gelaufen, denn weder Hitzlsperger noch Rolfes können je einen Frings ersetzen. Schon gar nicht frisurentechnisch: dieses romantisch wallende Haar, ganz nach italienischer oder argentinischer Façon von einem neckischen Gummiband zusammengefasst, als untrügliches Erkennungsmerkmal des exzentrischen Ausnahmekönners; wovon das deutsche Team – wie wir uns alle vergewissern konnten – ja nicht unbedingt zu viele hat. Übrigens: Ein Mario Gomez hat für seine frevelhafte Anmaßung bereits bezahlt. Seitdem er nämlich ebenfalls sein Haar, allerdings völlig überflüssigerweise, mit Band trägt, trifft er keinen Ball mehr. 21 Uhr 30 Liebes Tagebuch, so haben wir nicht gewettet! Denn die Deutschen führen. Und das Schlimmste ist: Sie führen gar nicht mal so unverdient. Sie stehen gut, sie lassen die portugiesischen Ballzauberer vor allem im Mittelfeld nicht zur Entfaltung kommen, und sie lancieren selbst immer wieder gefährliche Angriffe. Meistens über Schweinsteiger. Ausgerechnet Schweinsteiger! Der Mann war seit zwei Jahren, eigentlich seit dem WM-Spiel um Platz Drei gegen Portugal, untergetaucht, ist zwischenzeitlich nur durch wechselnde Haarfarben – unangenehm – in Erscheinung getreten und bisher bei dieser EM vor allem dadurch aufgefallen, dass er während der Partie gegen Österreich sehr unziemlich auf der VIP-Tribüne herumlümmelte. Liebe Portugiesen, bitte jetzt nur nicht melancholisch werden. Dafür ist nach dem Spiel noch Zeit genug. Jetzt sind nämlich vor allem deutsche Tugenden gefragt: Kämpfen bis zum Umfallen. Zähne zusammenbeißen. Und trotzdem Gras fressen. 22 Uhr 30 Aus. Vorbei. Deutschland siegt 3:2, nachdem dieser verd... Ballack ein irreguläres Tor geköpft hat und den Portugiesen fünf Minuten vor Schluss noch der Anschlusstreffer geglückt ist, sodass es am Ende sogar ziemlich spannend wurde. So spannend, dass der unterdessen ausgewechselte Schweinsteiger überhaupt nicht hinsehen konnte und sich deshalb sehr unnatürlich auf die Ersatzbank hinlümmelte. Der lernt`s nie. Jede Wette, dass uns nun also die Kroaten rächen. Aber mit denen verbindet uns ja schließlich auch einiges, zum Beispiel ein geschenkter Elfmeter, den es wieder gutzumachen gilt. Der Himmel über Berlin, er weint. Es ist Nacht, tiefe Nacht. Und die Welt ist heute noch ein bisschen ungerechter geworden.
Mehr Texte von Peter Kunitzky

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: