Werbung
,

10. Istanbul Biennale: Szenarien der Aufklärung im Zeitalter globaler Konflikte

Bereits die letzten Ausgaben der Istanbul Biennale konstituierten sich wohltuend souverän als kritische Kontrapunkte zu den sonst überall sprießenden Kunst-Biennalen. Diesmal reicht das Netzwerk der stadtweit ausgebreiteten Ausstellungs-Stützpunkte bis Kadiköy im asiatischen Teil Istanbuls. Biennale-Kurator Hou Hanru inkludiert speziell codierte Orte der Moderne wie auch der Modernisierung der Türkei. Östlich des Bosporus etwa spürte er ein dafür signifikantes Kulturzentrum auf. Inmitten des Chaos totaler Verkommerzialisierung urbanen Raums steht das elegante villenähnliche Gebäude des Kadiköy Halk Egitim Merkezi (KAHEM) symbolisch für Innovation, Bildung und Diskurs. Zeichenhaft erinnert die mit einer Volkshochschule vergleichbare Institution an die Perspektiven der von Anfang an als Bildungsunternehmen im Sinne der Implementierung aktueller Debatten aus dem Feld der Gegenwartskunst konzipierten Istanbul Biennale. In seinem kuratorischen Statement ruft Hou Hanru die kulturpolitische Gründungsmotive in Erinnerung. Während sich zeitgenössische Kunst im Westen als Folge der Modernisierung europäischer Gesellschaften konstituierte, fungiert die selbst als Projekt der Modernisierung begründete Istanbul Biennale in umgekehrter Richtung als kultureller Transmissionsriemen aus dem Kraftfeld der bildenden Kunst heraus. Als Andockstelle an die Gegenwart soll sie die Positionierung international präsenter Diskurse befördern. Darin unterscheidet sich diese Biennale auf hochinteressante Weise von ähnlichen Unternehmen im Westen. We are living in a time of global wars heißt es leitmotivisch in den Katalogbeiträgen. Doch was da eher plakativ klingt, führt letztlich in ein komplexes Labyrinth sozialer, geografischer und bildpolitischer Fragestellungen. In dem an einer Fußgängerzone auf einem steil abfallenden Berghang liegenden Kulturzentrum KAHEM steigt man in die unterste Etage hinab, um dann in einen Ausstellungsbereich zu gelangen, der die Biennale gewissermaßen verdoppelt. In einem matt beleuchteten Duschraum bezog die seit vielen Jahren an den Krieg in Tschetschenien gemahnende Emergency Biennale ihr Quartier. Das nomadische Projekt ging bereits an mehreren Orten der Welt in Szene. Mehr als 60 KünstlerInnen präsentierten sozialkritisch orientierte Werke, von denen sie stets leicht transportierbare Duplikate für eine gleichnamige Parallelausstellung nach Groszny schickten. In Istanbul eröffnet sich eine Zone der Dramatik. Auf einer Videobildserie etwa zeigen Frauen in medial wirksamer Pose mit Fotos in Händen Bilder von im Krieg befindlichen oder vermissten Männern. Gleich daneben wird über Fotos, Zeitungsbilder und comicartige Collagen der Charakter global transportierter Feindbilder thematisiert, indem die alte Frage nach dem arabischen oder amerikanischen Gesicht des Weltterrorismus mehrfach visualisiert wird. Wie beiläufig dann an eine angelehnte Tür geklebt: Dokumentationsmaterial zur allerersten Emergency-Biennale in Groszny. Und auf dem Boden liegend: Eine an ein Kriegsopfer gemahnende Puppe mit einer Vielzahl aufgemalter appellativer Botschaften; während in einem Eckbereich eine internationale Fax-Kunst Aktion mit Zeichnungen dokumentiert ist. In Form eines kleinstteiligen Kosmos breitet Emergency Biennale Kuratorin Evelyne Jouanno (Paris/ San Francisco) gemeinsam mit ihrem lokalen Co-Kurator Ceren Erdem ein verzweigtes Feld hochaktiver KünstlerInnen wie beispielsweise Sislej Xhafa aus Albanien oder Al Fadhil aus Syrien aus. Auch der weitaus bekanntere Francis Alys ist vertreten. Lesbar jedoch bleibt dieser hochpolitische Biennale-Teil lediglich als Gesamtinszenierung. Herangezoomt wirkt das Ideenpuzzle eher wie der Katalog eines diffizilen Verweissystems, das sich einem nichtakademischem Publikum kaum vermitteln dürfte; sofern das Mainstream-Publikum überhaupt an solche Ränder der rhizomorph verteilten Biennale-Orte gelangt. Von ihrem Zentrum im Hafen von Karaköy her besehen erschließt sich die diesjährige 10. Jubiläumsbiennale in der topografisch zerfransten türkischen Metropole jedoch als geradezu aufklärerisches Unternehmen, das versucht neue Publikumsschichten zu gewinnen und einen breiten Bogen durch die neuere Kunstgeschichte spannt. Im renommierten Museum Istanbul Modern präsentieren die bisherigen Biennale KuratorInnen wie René Block, Rosa Mertinez oder Charles Esche ausgewählte und teilweise rekonstruierte Werke und Installationen aus der bisher 20 jähre Biennale-Geschichte mit von KünstlerInnen wie Sarkis, Ayshe Erkmen, Haluk Akace oder von Shirin Neshat, deren auf der 4. Istanbul Biennale vorgestellte Foto-Serie Women from Allah nun wieder vertreten ist. Nur wenige Meter vom Istanbul Modern entfernt geht in der Lagerhalle Antrepo 3 ein zentraler Teil der Hauptausstellung über die Bühne. Relativ bald und in die Geografie des Raumes plausibel eingebracht erschließen sich hier thematische Schwerpunkte wie Diversität im urbanen Zusammenhang, Dissidenz und oppositionelles Bewusstsein, Krieg und soziale Auseinandersetzungen oder auch Sound und Stadt. Die Werke ergänzen einander, laden sich gegenseitig auf oder bilden Kontrapunkte. Beispielsweise designte die Gruppe Extrastruggle (Extramücadele) eine Serie von Postern für den öffentlichen Raum, auf der sich als Typen dargestellt in der Türkei verfolgte Minderheiten wie Schwule, ArmenierInnen, KommunistInnen oder KurdeInnen, aber auch der als Hermann Munster daherkommende Orhan Pamuk finden. Nicht weit davon entfernt eine Fotoserie von Rainer Ganahl, der mit dem Fahrrad 21 Orte in Istanbul aufsuchte, an denen in jüngster Vergangenheit JournalistInnen erschossen wurden. In unmittelbarere Nähe eine Videoarbeit von Jennifer Allora (USA) und Guillermo Calzadilla (C), in der ein Radfahrer von einem Tulum ? einer uralten Vorform des Dudelsacks ? und dessen Sound durch das Moderne Istanbul streift. Globalisierte Megacity und uralte Musikkultur verschmelzen hier spannungsreich ineinander. Genauso assoziativ eröffnen sich in den einzelnen Ausstellungssituationen Blicke auf Lebenswelten, die an ein Biennale Leitmotiv erinnern: ?Wie leben nach dem Ende der Dritten Welt als geografischen Zusammenhang auf der Landkarte. Vielmehr produzieren gegenwärtig alle Städte ihre eigene Dritte Welt.?, konstatiert Biennale Leiter Hou Hanru. In Fikret Atays Video Tinica spielt eine Junge auf einem Hügel sitzend über eine Öde Stadtlandschaft blickend auf Kübeln und Blechdosen vom Müll ein Schlagzeugsolo. In einem ebenfalls großflächig und laut projizierten Video von Minouk Lim schleudert ein auf einem durch Seoul brausender LKW stehender Rapper seine Slam-Poetry Reime in das anonyme Stadtszenario hinaus. Hauptsächlich pointierte, schnell erfassbare Aussagen präsentiert Hou Hanru somit in Form eines visuellen Thesen-Konzentrats das mit Antonio Negris und Michael Hardts politischer Analyse Empire unterfüttert ist. Zwischendurch erwächst da Sehnsucht nach ein wenig mehr Subtilität oder gar Poesie. Interessanterweise generiert Justin Bennet mit einer per Kopfhörer wahrnehmbaren Soundinstallation in dem mit Dreamhouse übertitelten Ausstellungspart solche Momente. Auf einem begehbaren Gerüst liegend taucht man ein in feinst abgemischte Straßen- und Außenraumgeräusche aus dem Alltag Istanbuls. In Form einer diffizilen Toncollage begegnet man der aus dem Stadtleben nicht wegzudenken Stimme des Muezins inmitten von Gesprächsfetzen, Autolärm, Gehsteiggetrappel und simplen Techno-Beats irgendwo aus einer Bar. Genau das strebt die Istanbul-Biennale immer wieder vcon neuem an: Kommunikation mit dem Stadtraum selbst. Dies jedoch gelingt Hou Hanru vor allem auf einer soziopolitischen Ebene. Stellenweise gerät die Biennale daher etwas zu linear thesenhaft. Umgekehrt treten manche Ausstellungssituationen genau so in eine interessante dialektische Spannung zu ihren Präsentationsorten. Einfach nachvollziehbar entschlüsselt sich diese Verschränkung in der so genannten Dünya Fabrikasi, der World Factory in einem der Moderne verpflichteten und architektonisch herausragenden Einkaufszentrum aus Einzelgeschäften, die auf mehreren Etagen von außen begangen werden können. In dem herausragenden Bau von Dogan Tekeli und Sami Sisa aus den 1950er Jahren werden von KünstlerInnen wie, Cao Fei (CN), Ursula Biemann (D) oder Ramazan Bayrakoglu (T) oder Chen Chieh-Jen aus Taiwan in unterschiedlichen visuellen Übersetzungen globalisierter Warenverkehr und die Ökonomisierung des Alltags thematisiert. Doch während hier lediglich inhaltliche Anknüpfungspunkte Ort des Einkaufszentrums aufgebaut wurden, folgt die inhaltliche Logik der Biennale Atatürk Kültur Merkezi, der nur wenige Meter von Taksim entfernten Stadthalle Istanbuls den Konzepten des Funktionalismus Moderner Architektur. Der in Wien lebende Markus Krottendorfer etwa zeigt in einem der großzügigen Foyers des Atatürk Centers eine Fotoserie des mittlerweile niedergerissenen Hotes Rossija in Moskau als sentimentalen Rückblick auf eine Ära, in der gigantischer Funktionalismus mit Komfort und Gemütlichkeit zum Paarlauf in die Zukunft des Sowjetkommunismus antraten. Dass wir uns hier jedoch weiter südlich am Schnittpunkt zwischen konservativ islamischer Welt der überlauten Entertainment-Sphäre eine kulturell um Säkularisierung kämpfenden Metropole befinden, daran erinnert Erdem Helvacioglu (T) mit einer Soundinstallation direkt an der Fensterfront des Kemal Atatürk Center, von der aus sich eine einzigartige Perspektive auf den Taksim und das dahinter liegende Szeneviertel Beyoglu eröffnet. Allein durch die Auswahl solcher Orte gelang es Biennale Leiter Hou Hanru und seinem Team, die widersprüchliche Realität der 12 Millionen EinwohnerInnen zählende Stadt zu spiegeln. Mehr denn je verdeutlicht das politische und auf die Spuren der Moderne konzentrierte Konzept Hou Hanrus, dass die Istanbul Biennale kaum einen anderen Weg gehen könnte, als das konfliktreiche gesellschaftliche Umfeld der Stadt selbst aus immer wieder neuen Blickwinkeln zu fokussieren. Vor dem sozialen Hintergrund der gesamten Türkei erscheint dieses Konzept avanciert, riskant und vor allem diskussionsstiftend. Während die türkischen Tageszeitungen ihre ersten mehrseitigen Biennale-Berichte bringen, weist Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk in einem BBC-Fernseh-Feature gerade darauf hin, dass es Zeit sei, dass der Säkularisierungsprozess in der Türkei nicht mehr wie zur Zeit Kemal Atatürks durch das Militär, sondern durch Diskurs vorangetrieben werden müsse. Und wenn Kunst in ihrer Geschichte immer wieder versuchte visuelle Repräsentationen von Welt zu konstruieren, dann unternimmt diese Biennale den engagierten Versuch als dialektischer Nukleus direkt in den Alltag einzugreifen; und dies teils 24 Stunden lang, da sie ergänzt wird durch ein ausführliches Diskussions-, Vortrags- und Videoprojektionsprogramm in verschiedenen Stadtvierteln mit dem Titel Gecegezenler, Nightcomers.
Mehr Texte von Roland Schöny

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

10. Istanbul Biennale
08.09 - 04.11.2007

Istanbul Biennale
Istanbul,
http://14b.iksv.org


Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: