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Folge dem Kaninchen

Geht es um Filme von David Lynch, überstürzen sich die Assoziationen. Von Klaustrophobie und Alpträumen ist in Besprechungen immer wieder die Rede, aber vor allem von seiner Nähe zum Surrealismus. Und es stimmt: David Lynch ist vielleicht der letzte große Surrealist, ein Künstler, der sich bezeichnenderweise am wirksamsten im Medium Film ausdrückt, obwohl Lynch auch malt, fotografiert und viele andere Medien bespielt, wie erst kürzlich wieder in einer Ausstellung der Pariser Fondation Cartier zu sehen war. Lynchs neuester Film heißt Inland Empire und ist möglicherweise sein Opus magnum - so genau weiß man das noch nicht -, bestimmt ist er aber das verstörendste Werk seit seinem Spielfilmdebüt Eraserhead (1977). Die Handlung beobachtet eine Hollywoodschauspielerin dabei, wie sie bei den Dreharbeiten zu jenem Film, der ihr Come Back sichern soll, zunehmend die Kontrolle über ihre Wahrnehmung von Wirklichkeit verliert. Dreharbeiten und Filmhandlung, Film und Film im Film, verknäueln sich zu einem traumartigen, unentwirrbaren Wunderland, zu einem Labyrinth aus ständig neuen Perspektiven auf die - natürlich entweder mit Düsternis oder unheilvoller Harmlosigkeit erfüllten - Orte und die seltsamen Personen und Begegnungen darin. Erst nach Drehbeginn erfahren die von David Lynchs Muse und Koproduzentin Laura Dern gespielte Diva Nikki Grace und ihr männlicher Partner Devon Berk (Justin Theroux), dass der Film das Remake eines anderen Projektes ist, das wegen des rätselhaften Ablebens der beiden Hauptdarsteller nie beendet wurde. Um dem nach Stoff für Vermutungen gierenden Publikum noch ein paar Brocken hinzuwerfen, lässt Lynch den von Jeremy Irons gespielten englischen Regisseur erzählen, dass die Handlung um einen Ehebruch auf einem polnischen Zigeunermärchen mit dem seltsamerweise deutschen Titel "Vier Sieben" basiert. Mehr braucht es nicht, um beim Zuseher eine Kette von Imaginationen auszulösen, die fortan Nikkis Odyssee durch das Inland Empire begleiten und den rätselhaften Ereignissen immer mehr Bedeutung zubilligen wird, als diese tatsächlich heraus rücken. Während der fast drei Stunden, die man, zumeist wie hypnotisiert, mit diesem Film zubringt, erlebt man des Öfteren Momente, die einem kurzen Erwachen ähnlich sind. Für die Surrealisten war Film aufgrund seiner Analogie mit dem Traum ein ideales Medium, Inhalte aus dem Unbewussten direkt visuell zu transportieren. David Lynch erwies sich schon mit Eraserhead und jetzt wieder mit Inland Empire einmal mehr als der große Erbe dieser künstlerischen Utopie. Artaud/Dulac und Buñuel/Dalí benutzten das Subversive des surrealistischen Films, um gesellschaftlich schockierenden Botschaften eine ihnen gemäße Form zu geben. Bei Lynch geht es - nach den seither vergangenen vielen Jahrzehnten der Freud-Rezeption nicht sehr verwunderlich - dafür mehr um den Aspekt des "Inland Empire", des seltsamen Universums im Kopf, vor allem in seinem eigenen. Doch dort passiert offensichtlich noch immer ziemlich viel, das der Projektion auf die große Leinwand würdig ist. Inland Empire, USA 2006, 172 min Regie: David Lynch Mit Laura Dern, Jeremy Irons, Justin Theroux, Harry Dean Stanton, Grace Zabriskie, Diane Ladd, Julia Ormond, Nastassja Kinski, Naomi Watts ab 1. Juni im Kino. www.gartenbaukino.at
Mehr Texte von Andrea Winklbauer

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