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Kleine Mutter durch

Zweimal trat gestern eine Selecao an. Die eine kann eigentlich nichts richtig und gilt als ewiger Geheimtip. Die andere ist das Maß aller Dinge. Gewonnen hat Portugal, die kleine koloniale Mutter des fußballerischen Riesenreiches Brasilien. Und das gar nicht mal überraschend. Der Gegner hieß England und hatte sich bis dahin im Turnier nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Im Grunde sind sich die beiden Völker traditionell freundlich gesonnen, und in Sachen Fußball ist die Rangfolge klar: Portugal hat noch nie ein internationales Turnier gewonnen, während England seit 1966 an seinem Comeback an die Weltspitze arbeitet. Doch das kleine Land am Rande Europas ist der Angstgegner der Inselbewohner, besonders mit seinem brasilianischen Trainer Luiz Felipe Scolari. Als Coach von Brasilien beförderte er England im Viertelfinale aus der WM 2002, und bei der EM 2004 gewann er im Viertelfinale mit Portugal im Elfmeterschießen. Dass es heuer genauso kommen sollte, war bei weitem nicht von Beginn an ausgemacht. Die Altherrenriege um Luis Figo - euphemistisch "Goldene Generation" genannt - ließ die Partie nämlich recht gemütlich angehen. Die Briten waren zwar spielbestimmend, hatten es mit dem Punkten aber nicht eilig. Symptomatisch die Szene im portugiesischen Strafraum in der 59. Minute, für die kurzzeitig der Regisseur von "Matrix" das Kommando übernommen zu haben schien: Während alle grün-roten Spieler für einige Sekunden im Standbild verharren, dribbelt Lennon von rechts an der gesamten Abwehr vorbei, passt in den Torraum zurück und muss mitansehen, wie mehrere seiner Kameraden völlig ungehindert an seiner Traumflanke vorbeigrätschen. Danach läuft das Spiel normal weiter, allerdings ohne Wayne Rooney, der kurz darauf für einen schnellen Tritt in die untere Leibesmitte des am Boden liegenden Carvalho vom Platz gestellt wird. Endlich herrscht Chancengleichheit - Tore fallen trotzdem keine. Anschließend wird Ricardo zum Helden, weil er als Erster in der WM-Geschichte drei Elfmeter hält. Damit steht Portugal im Halbfinale. Die große der Tochter der kleinen Mutter Portugal heißt Brasilien und gilt als das Land der Fußballzauberer schlechthin. Ihr größter Star heißt Ronaldo, der in früheren Jahren durch ein Übermaß an Talent und Knieverletzungen auffiel. Das ging soweit, dass er 1998 im Finale gegen Frankreich, wohl vollgepumpt mit Schmerzmitteln, nach einem rätselhaften Krampfanfall wie ferngesteuert über den Platz torkelte und der Equipe tricolore fast ungehindert den Titel überließ. Diesmal war es nur das Viertelfinale, der Verlauf allerdings ähnlich. Als hätten beide Mannschaften die Trikots schon vor dem Anpfiff getauscht, erteilten die seit acht Jahren glücklosen Europäer den Südamerikanern eine Lektion in Fußballmagie. Der bis zur Ausscheidungsrunde missmutig über den Platz zuckelnde Frührentner Zinedine Zidane beherrschte das Mittelfeld alleine und ließ den Ball immer wieder Kapriolen in Richtung Thierry Henry schlagen, der sich in der 57. Minute mit einem grandiosen Abstaubertor bedankte. Nach dem Spiel sagte Ronaldinho. "Wir mussten gewinnen und schön spielen." Leider haben er und seine Kameraden beides nicht getan.
Mehr Texte von Stefan Kobel

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Ihre Meinung

1 Posting in diesem Forum
jawohl!
gerhard theewen | 03.07.2006 04:56 | antworten
solche spielberichte möchte ich gerne öfter lesen. da ist witz, beobachtungsgabe und sprachgefühl auf gleicher höhe –… und höhe ikst wörtlich zu nehmen!

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