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blug - Vier Jahrzehnte Kunst aus Gugging: Museumswalzer für Singles

Die Anreise ist ein wenig kompliziert, zumindest, wenn man mit den Öffis kommt. Das letzte Stück ist eine richtige Wanderung. Vielleicht nennt man es besser eine Pilgerreise. Am Ende dieser Milchstraße steht allerdings nicht die "Lourdesgrotte", sondern ein neuer Tempel für die Kunst: das eben eröffnete Art Brut-Museum Gugging. Damit geht das Projekt "Künstler aus Gugging" in eine neue Phase. Der Psychiater Leo Navratil hatte in der Landesnervenheilanstalt zunächst aus diagnostischen Gründen Patienten zum Zeichnen ermuntert. Als er feststellte, dass einige sehr begabte unter ihnen waren, die bald vom Art Brut-Pabst Jean Dubuffet als Vertreter der "rohen Kunst" bestätigt wurden, förderte schon er die Rezeption seiner Patienten als Künstler. Arnulf Rainer, Peter Pongratz und Franz Ringel erkannten sie als Kollegen an und waren von ihrer Originalität fasziniert. Das Besondere an der Kunst von psychisch Kranken ist, dass Moden und Nachahmung so gut wie ausgeschlossen sind. Die durch die Krankheit ausgelöste Regression lässt nur die originalste Schicht des Bildnerischen übrig. 1970 fand in der Galerie nächst St. Stephan die erste "Gugginger"-Ausstellung statt. Seit 1981 gibt es das Haus der Künstler in Gugging, das seit 1986 von Johann Feilacher geleitet wird, dem Nachfolger Leo Navratils nach dessen Pensionierung. Schon zum Haus der Künstler gehörte seit 1994 eine Verkaufsgalerie. Nun also wird Gugging museal. Das entspricht nicht den Intentionen des Erfinders, der sich als "Gegner eines rein ästhetischen Umgangs mit der Kunst unserer Patienten und der Abspaltung des Künstlerischen von dem dahinter stehenden Menschlichen" deklarierte, scheint aber dennoch eine gute Sache. Unter der zweifellos verdienstvollen Ägide von Leo Navratil wurden die "Gugginger" entdeckt, vielleicht auch erst gemacht, blieben aber in der Wahrnehmung aller Welt Patienten, wenn auch mit wunderbaren Fähigkeiten. Johann Feilacher setzt dagegen auf die Deklaration der Patienten als Kreative, als Menschen, die einem Beruf nachgehen, der ihnen Lohn und Anerkennung bringt. Das ist zweifellos ein zeitgemäßes Konzept. Dass in dieser Hinsicht noch manches neu zu denken wäre, deutete die Frage einer Journalistin während der Pressekonferenz an. Warum es im privilegierten Haus der Künstler keine Frauen gebe, wollte sie wissen. Passend zum Ort, war Feilachers Antwort freudianisch: Das sei wie auf den Kunstakademien, wo Jahr für Jahr gleich viel begabte Frauen wie Männer anfingen, aber nur die wenigsten würden es letztendlich zu Berühmtheit bringen. War das nicht eigentlich so, weil, zumindest bis vor ganz kurzer Zeit, Frauen als Künstlerinnen von der Gesellschaft marginalisiert und eher verhindert wurden? Aber vielleicht bilden wir uns da mal wieder was ein und es gibt in der Landesnervenheilanstalt tatsächlich keine einzige begabte Patientin.
Mehr Texte von Andrea Winklbauer

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blug - Vier Jahrzehnte Kunst aus Gugging
30.06.2006 - 08.04.2007

Galerie Gugging Nina Katschnig
3400 Maria Gugging, Am Campus 2
Tel: +43 676 841181 200
Email: office@galeriegugging.com
https://galeriegugging.com/
Öffnungszeiten: Di - Fr 10 - 17, Sa 12 - 17h
und gerne nach Vereinbarung unter +43 676 841181 200


Ihre Meinung

3 Postings in diesem Forum
Reproduktion
Nina Schedlmayer | 08.07.2006 03:06 | antworten
In einem Interview hat Herr Feilacher gesagt:"Es gibt am Kunstmarkt generell viel weniger Frauen. Am Talent liegt das sicher nicht, aber vielleicht an der Psyche. Kunst zu machen basiert auf einem Willen zur Selbstverewigung. Frauen müssen sich durch Kunst nicht reproduzieren, das geht bei ihnen auch über Kinder." Schön, dass anno 2006 die Rollenverteilungen noch genauso klar sind wie vor hundert Jahren.
wahr, wahr!
Vienna | 09.07.2006 02:58 | antworten
Ich frage mich ja, was nach dieser Theorie Künstlerinnen mit Kindern sind. Freaks mit zwei Uteri vielleicht. Scherz beiseite. Es ist nachgerade erschreckend, wie der misogyne Fundamentalismus zurzeit wieder im Kommen ist, gerade im Wissenschaftsbereich. Herrn Feilachers These ist ja kein Einzelfall. Erst kürzlich durfte in einer Folge der Wissenschafts-Dokureihe "Expeditionen ins Gehirn" auf 3sat ein Professor Fitzgerald aus Dublin vor der Kamera unwidersprochen sagen, dass ohne das männliche Gehirn das Rad nie erfunden worden wäre und der Beitrag der Frauen zum Fortschritt das Gebären von Männern gewesen sei. Hundert Jahre Hirnforschung waren also nach Professor Fitzgerald nur dazu gut, so viel zu wissen wie schon weiland Otto Weininger in seinem Dusel. Das scheint die Art von Fortschritt zu sein, für die es explizit ein männliches Gehirn braucht.
Die Befreiung vom Vorurteil, grob oder brut zu sein
Paul Salvator Goldengruen | 09.07.2006 12:33 | antworten
Es hat sich schon einiges getan bei der Rezeption von Kunst der sogenannten psychisch Kranken und von sogenannten Außenseitern. Ein Museum ist ein enormer Schritt in die richtige Richtung. Ein weiterer Schritt wäre damit getan, daß man für die marginalisierten Gruppen wie psychisch Kranken oder gesellschaftlichen Außenseitern die mit den Begriffen "art brut" und "outsider art" einhergerhende Kategorisierung in Frage stellt. Müssen psychisch Kranke oder gesellschafliche sogenannte Außenseiter wirklich roh sein oder Außenseiter? Denn man malt ja bekanntlich so, wie man ist, man stellt sich in der Kunst selbst dar. Wie wird begrifflich die oft hohe Sensibilität von psychisch Kranken oder Außenseitern gewürdigt? Außerdem wird sprachlich so eine Art Rahmen für diese Menschen vorgegeben, in dem sie sich mit ihrer Kunst zu bewegen haben. Das ist der eine mir wichtige Punkt. Der zweite wichtige Punkt scheint mir zu sein, daß man durch Berschäftigung mit Ästhetik oder mit der Ausgestaltung differenzierter Gefühle in Kunstwerken eine Entwicklung des Künstlers oder des Kunsttreibenden auch in seinem Gefühlsleben erzielen kann. Möglicherweise wird durch Darstellung des Schönen und nicht notwendigerweise Rohen auch der Schatten freigelegt, das, was diesen Menschen auch im täglichen Leben verwährt wird, zu leben bzw. auszuleben. Der Schatten kann auch das Schöne sein!!! Kann dieses Schöne nicht gelebt werden, kommt es leicht zu Destruktivität und Rohheit. Aber wird dieses innere Schöne durch das künstlerische Schaffen befreit, kann auch das tägliche Leben und Empfinden des Kunsttreibenden schöner werden und so sein ganzes Leben neu ausrichten. Und nicht nur sein Leben. Auch auf das (jungsche) Kollektiv kann sich die freigelegte positive Ausstrahlung auswirken. Hier wäre der psychisch Kranke oder Außenseiter bzw. der einst psychisch Kranke oder einstige Außenseiter, der sich durch die künstlerische Tätigkeit heilt bzw. aus der Außenseiter-Position befreit ein Vorreiter für die Allgemeinheit, die oft an denselben Problemen laboriert, diese aber zumeist besser übertünchen kann. So wird der marginalisierte Künstler und Kreative zum Befreier statt zum leidenden Opfer.

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