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Ein Reisebericht

Es war die Viennale der Saalflüchter. Es war auch die Viennale der langen Filme, der langen Einstellungen, der langen Augenblicke. Überdimensional viele Spielfilme des regulären Programms kamen dieses Jahr aus asiatischen Ländern. Die Mehrzahl davon waren sensibel beobachtete Studien von Dramen des Alltags, "kostbare Stücke filmischer Gegenwart", wie es in der Short Guide-Beschreibung zur chinesischen Produktion "Alian" (Regie: Wei Xueqi), einem der schönsten davon, wirklich treffend heißt. Wunderbar entfaltete sich diese filmische Sensibilität aber auch in vielen Spielfilmen anderer Provenienz, so z.B. in der rumänischen Produktion "Der Tod des Herrn Lazarescu" oder in "Last Days", Gus van Sants Einfühlung in die letzten Tage des amerikanischen Musikers Kurt Cobain. Es waren viele schöne Kinoerlebnisse im Programm dieses Jahr, doch ging dem Ganzen die Vielfalt ab, die man von früheren Viennalen kannte. Wie schade, dass z.B. ost- und südosteuropäische Filmproduktionen dieses Jahr so gut wie nicht vertreten waren. Die vielen, filmisch ähnlich fokussierten Bilder und meditativen Sequenzen vor allem des asiatischen Kinos drohten einander schließlich gegenseitig auszublenden. Halten wir uns an das Positive. Der schon erwähnte Spielfilm "Moartea dumnului Lazarescu" gehört ganz deutlich dazu. Während 158 Minuten, also recht lang, sehen wir, wie es einem ärmlichen alten Herrn immer schlechter geht. Er hat Magenschmerzen und Kopfweh, isst wenig, trinkt viel. Es kommt einem ewig lange vor, bis es ihm gelingt, medizinische Hilfe zu organisieren. Obwohl die Vorgänge und Verrichtungen bis in Details dem entsprechen, was unter solchen Umständen zu erwarten ist und sie auch noch recht ausführlich geschildert sind, hält die Handlung den Zuseher in Atem. Als dann die Odyssee durch die überfüllten Krankenhäuser beginnt und immer klarer wird, dass es sich bei dem schon quälend langsamen, aber völlig realistischen Fortgang des Geschehens um einen Wettlauf mit dem Tod handelt, entwickelt "Moartea dumnului Lazarescu" gar einen Sog, aus dem der Zuseher selbst am Ende der Reise nicht entlassen wird. Schon seit Jahren gehört das Angebot an Dokumentarfilmen zu den Highlights jeder Viennale. Auch dieses Jahr gab es viele gut Filme, aus denen hier stellvertretend zwei hervorgehoben sein sollen. "Frammenti eletrici N. 4 - 5. Asia - Africa" des italienischen FilmemacherInnenpaars Yervant Gianikian und Angela Ricci-Lucchi besteht aus aneinander geschnittenem Found Footage, Amateurfarbfilmaufnahmen aus den Siebzigern von Straßenszenen in afrikanischen und asiatischen Ländern. Ganz ohne dass ein Kommentar nötig wäre, beginnt der heutige Betrachter dieser bunten, fremden Welten über die Beschaffenheit der historischen, westlichen Blicke auf das Andere zu meditieren und sie mit seinen eigenen, heutigen zu hinterfragen. Die zweite Doku heißt "Massaker" und zeigt ein anderes spannendes Experiment. Ein deutsches Regietrio interviewte einige der Täter des Massakers in den Palästinenserlagern Sabra und Shatila im Libanon im September 1982. Ohne Namen, ohne Gesichter, nur auf die Stimmen und die Körpersprache konzentriert, wird dieser Film zu einer überindividuellen Studie über Gewalt, ohne je den kleinsten Fehltritt in Richtung einer Wertung zu begehen. Die große Leistung der FilmemacherInnen besteht darin, ihre Reise ins Herz der Finsternis vom Individuellen loszulösen und auf unendlich differenzierte Art etwas abzubilden, über dessen völlige Absenz auch in uns selbst wir nie ganz gewiss sein können.
Mehr Texte von Andrea Winklbauer

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