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Im Angesicht der Wirklichkeit

Was denn so toll sei an der Wirklichkeit, dass alle sie kennen müssten. Die das fragt, versucht zu erklären, warum sie ihrem zehnjährigen Sohn nicht erzählt hat, dass sein Vater leider nicht auf Geschäftsreise im Ausland ist. Das nur 26-minütige Kurzdrama "Wie Schnee hinter Glas" gehörte zu den schönen Erlebnissen einer diesbezüglich nicht sehr reichen Diagonale 05. Richtig einfühlsam zeigte sein Regisseur Jakob M. Erwa, wie schwer man es mitunter mit der Wirklichkeit hat. Auch dem Besucher dieser Diagonale geht es nicht anders. Man möchte so gerne etwas Nettes über sie sagen, aber so richtig überzeugt davon ist man eigentlich nicht. Da gab es eine Menge Filme, die ganz reell waren. Aber kaum etwas ging darüber hinaus. Liegt es vielleicht daran, dass das Programm nahezu beherrscht wurde von Dokumentationen? Oder liegt es an einer immer noch aktuellen Tendenz im österreichischen Spielfilm, in deren dramatisiertem Sozialstriptease in Unterschicht-Milieus Realitätsnähe das zentrale Stilmittel ist? Selbst einer thrillerartigen Fiktion wie dem Siegerfilm "Hotel" von Jessica Hausner steht dem Versuch, Genregrenzen zu unterlaufen und ein unfassbarer, großer Film zu sein unter anderem die Nähe zu dieser jüngsten österreichischen Tradition im Weg. Gerade einmal die Spielfilme "Fräulein Phyllis" von Clemens Schönborn und "Mein Vater, meine Frau und meine Geliebte" von Michael Kreihsl sowie neue Experimentalfilme von Thomas Draschan, Siegfried A. Fruhauf oder Gustav Deutsch verhalfen dem Publikum zu kleinen Fluchten. Bei den Dokumentationen wurde ein formaler Trend endgültig manifest. Dokus bestehen zunehmend aus Kollagen aus thematisch sortierten Interview-Statements, ohne Voiceover-Ebene, dafür mit Zwischentiteln und fast suggestiv eingestreutem Archivmaterial. Zu den diesbezüglichen Highlights gehören "Operation Spring" über den berüchtigten ersten großen "Lauschangriff" der österreichischen Polizei, bei dem 1999 in einer Nacht rund hundert Schwarzafrikaner unter dem Vorwurf des Drogenhandels festgenommen wurden, "F.A.Q." über die heutige Situation der Kärntner Slowenen und "Die letzten Zöglinge" mit Statements ehemaliger Schüler in katholischen Internaten wie André Heller und Josef Hader, die mit den Methoden der Patres hart ins Gericht gehen. "Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?" ist der Titel des vermutlich aufregendsten filmischen Erlebnisses dieser Diagonale, das sich völlig konträr zum eben Gesagten verhielt. Im Voiceover im Nachrichtensprecherstil werden Fakten aus der Wirtschaftsgeschichte der BRD mit absurden Mitteilungen über die Gesundheit oder das Privatleben von Magnaten aus den Familien Flick, Strauß, Krupp, Oetker oder Thyssen vermischt, dazu gibt es elegische Kamerafahrten über banale Straßen, Häuser, Industrieanlagen oder Fabrikshallen, aber nie Bilder, die das Gesagte wirklich illustrieren oder etwa konterkarieren. Die Verweigerung von Aussagen sagt auf andere Weise sehr viel aus. Da entsteht etwas in dem Raum zwischen Hören und Sehen, zwischen Inhalten und Formen, dem, was man sieht, und dem, was man weiß. Genau solche Filme wünscht man sich auf Festivals. Das ist ein Umgang mit Wirklichkeit, wie er nur im Film auf diese Weise möglich ist.
Mehr Texte von Andrea Winklbauer

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