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Flanierplätze der Großstadt

In Wien konnten sie sich nie durchsetzen. Zu liberal waren die für das Flanieren, Konsumieren und zwanglose Treffen geschaffenen Passagen, Vorläufer der großen Kaufhäuser, die es hier ja auch nie richtig geschafft haben. In den Galerien des Palais Royal wurde die Französische Revolution ausgebrütet. Der kaiserliche Hof konnte mit dem Bautyp Passage verständlicherweise nicht viel anfangen. Glasgedeckte Passagen waren neben den großen Bahnhöfen und Maschinenhallen wohl die bedeutendste architektonische Neuentwicklung des 19. Jahrhunderts. Die schönsten Exemplare stehen in England und Frankreich. Dass J. F. Geists zuerst 1969 erschienenes Standardwerk für das 20. Jahrhundert nur noch einen Verfall des Bautyps konstatiert, liegt vielleicht auch an den historischen Gegebenheiten und daran, dass der Autor Prag zu wenig kannte. Dort sind jedenfalls im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zahlreiche großartige Beispiele für überdachte öffentliche Durchhäuser entstanden, die ebenso in der Tradition mittelalterlicher Wegeführungen stehen wie sie Prototypen des modernen Lebens darstellten. Unterirdische Schwimmbäder gab es da, die durch Glasdecken erhellt waren, Tea Rooms, Cafés, Automatenrestaurants und vor allem jede Menge Kinos und Theater, darunter epochemachende wie Laterna Magika, Semafor, das Rokoko-Theater oder das "befreite Theater" von Jirí Voskovec und Jan Werich. Für die Bauten zeichneten die renommiertesten Architekten des Jugendstils und Funktionalismus verantwortlich. Am Wenzelsplatz entstand kaum ein Neubau ohne öffentlichen Durchgang. 1938 brach diese Entwicklung ab, und auch der Sozialismus hatte kein Interesse an halböffentlichen Plätzen mit Zusammenrottungspotenzial. Seit den Neunzigern bemüht man sich um ein Anknüpfen an die großstädtische Tradition. Das Faszinosum der alten Passagen, die die Ausstellung und der aus einem leider vergriffenen umfangreicheren Band destillierte Pocketguide vermitteln, erreichen sie jedoch nicht.
Mehr Texte von Iris Meder †

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