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Datenlandschaft in 3D

Jedem Mittelschüler waren sie ein Graus. Durch die auswendig zu lernenden Zeittafeln wurde die Langeweile gymnasialen Geschichteunterrichts noch gesteigert. Abgedruckt in Lehrbüchern waren sie wohlmeinend-optimistisch mit bunten Farben hinterlegt, vollständigkeitsbeanspruchend vollgefüllt mit Daten, Orten, Fakten. Ähnliche Tafeln - von Fluxus-Proponenten George Maciunas handschriftlich erstellt - finden sich schwarzweiß faksimiliert in einem schlicht-schönen Buch, das anlässlich einer Ausstellung in der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin herausgegeben wurde. Ob die "charts", die in manchmal abweichender Rasterform (Ort- und Zeitachse!) einen Überblick über Kunstgeschichte, Geschichte im allgemeinen oder die Fluxusbewegung geben, jemals als Lernbehelf eingesetzt wurde, verrät der Beipacktext von Astrit Schmidt-Burkhardt nicht. Dafür legt dieser die Zusammenhänge zwischen Maciunas Art der Geschichtsarchivierung und Fluxus offen - die Autorin zieht dazu Stephen C. Foster heran, der die ambivalente Beziehung zwischen diesen beiden Größen beschrieb und zu dem Schluss kam, dass Fluxus einerseits eine Verweigerungshaltung gegenüber dem Modernismus annahm, andererseits Geschichte an sich als übergeordnete Autorität begriff - in die es sich einzuordnen galt. Die Tafeln, die Maciunas zwischen 1953 und 1973 angelegt hat, basieren auf einem Schachtelarchiv, in dem alle möglichen Daten auf Zetteln gesammelt waren. War auf den linierten Papieren der "charts" zuwenig Platz, klebte Maciunas einfach weitere Zettel mit den entsprechenden Informationen ein. So entstanden "dreidimensionale Datenlandschaften", hinter deren Klappen sich wie in den beliebten Bilderbüchern für die Allerkleinsten neue Entdeckungen und Erkenntnisse auftun. Das Fluktuierende, Unbestimmte und Unvollendbare, das jedem Versuch von Geschichtsschreibung ausweglos eigen ist, wird so sichtbar. Gleichzeitig aber ist Maciunas Versuch einer rigiden Art der Geschichtserfassung eine Parallele seines eigenen Umgangs mit KollegInnen, die er in einer der Tafeln sogar sichtbar gemacht hat: Ähnlich dem autokratischen André Breton schloss auch der Fluxus-"Chef" andere aus heute kleinkariert erscheinenden Gründen aus der Gruppe aus. Die waren dann sozusagen durch das Raster gefallen. Astrit Schmidt-Burkhardt: Maciunas Learning Machines. From Art History to a Chronology of Fluxus Vice Versa Verlag, Berlin 2003
Mehr Texte von Nina Schedlmayer

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