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Deassassination – Über das Entsammeln

Kürzlich fand im Bündner Kunstmuseum im Schweizerischen Chur ein Symposium zur Zukunft der Museen statt. Antje Stahl, Kunst- und Architekturkritikerin, brachte vorsichtig den Gedanken der „Deaccession“ ins Spiel – also der bewussten Entsammlung, der Entfernung von Werken aus den Beständen öffentlicher Institutionen. Der Großteil der anwesenden Museumsdirektor*innen reagierte reserviert. Es sei zwar sinnvoll, den Kanon zu überprüfen und zu korrigieren – vor allem hinsichtlich des Frauenanteils in den Beständen – und gewiss auch nötig, Mittel freizusetzen, die der Gegenwart oder gar der Zukunft zugutekommen sollten. Doch die Verantwortung, ein Werk aus der Sammlung zu entlassen, sei unvergleichlich größer als die eines Erwerbs oder wenigstens der dauerhaften Sicherung.

Auffällig war, dass kaum jemand das Wort „Deaccession“ auszusprechen wagte. Man einigte sich rasch, aus mehr als nur sprachlichen Gründen, auf das deutsche „Entsammeln“. Doch auch dieses Wort bleibt spröde, beinahe widerständig. Vielleicht verweigerte sich die Zunge, weil hier ein Tabu berührt wird, eine Art sprachlicher Sperre, die selbst das Denken hemmt. Oder lag es daran, dass „Deaccession“ unwillkürlich an ein anderes, noch ungebildetes Wort erinnert – „Deassassination“ –, als ginge es um das „Rückgängigmachen des Tötens“?

Der Erwerb eines Werkes ist immer auch ein Akt der Stillstellung, ein Zeichen seiner endgültigen Überführung aus der Sphäre des Tauschs in jene der Bewahrung. Sobald ein Werk in eine öffentliche Sammlung eingeht, wird es dem Markt entzogen, seiner Zirkulation beraubt und in den Zustand dauerhafter Aufbewahrung überführt. Die Aufnahme ins Museum bedeutet die Liquidierung seines Tauschwerts, das Ende seiner Beweglichkeit. Eine Wiedereinbringung in den Markt wäre – zumindest wirtschaftlich – eine Wiederauferstehung.

Einige Museen haben diesen Schritt erwogen oder gewagt, nicht aus juristischem Zwang, sondern aus institutioneller Notwendigkeit. Das Brooklyn Museum in New York verkaufte im Krisen- und Corona-Jahr 2020 mehrere Werke, darunter eine »Lucretia« von Lucas Cranach dem Älteren. Die Figur, die sich selbst das Leben nimmt, um ihre Reinheit zu bewahren, steht hier in verstörender Entsprechung. Ein Werk, das einen Akt der Selbstaufopferung darstellt, wird selbst aus der Sammlung entfernt.

Doch gerade diese Konstellation zeigt, warum Entsammeln kein einfacher Vorgang ist. Museen sind nicht nur Lager von Objekten, sondern Träger*innen kultureller Narrative. Wer Werke entfernt, verändert die Geschichten, die die Sammlung erzählt, und berührt damit ihr Fundament. Entsammelte Werke geraten häufig in private Hände, entziehen sich dem öffentlichen Diskurs, ihre Wirkung verflüchtigt sich – oder wandelt sich, belegt von einer prekären Identität zwischen Unsicherheit und Selbstbehauptung.

Das Entsammeln ist kein bloßer Verwaltungsakt, sondern ein Schnitt, dessen Bedeutung über das Ökonomische hinausreicht. Es kann die Sammlung verletzen, ihre Kohärenz schwächen – und doch in seltenen Fällen neue Ordnungen eröffnen. Cranachs »Lucretia« – das Töten, um zu bewahren – spiegelt die ganze Ambivalenz des Entsammelns, ja auch das Leiden und die verletzte Scham.

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Abbildung: Lucas Cranach der Ältere, »Lucretia«, ehemals Brooklyn Museum, versteigert bei Christie’s im Oktober 2020 für 4,2 Millionen Dollar, Foto: Christies's

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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