
ESCapismus
Ressentiments, Nachbarschaftssympathie und jegliche Politik natürlich vollkommen beiseite gestellt, darf sich Europa (mit Israel und Australien) einmal im Jahr vereint fühlen. Die Klischees bleiben die gleichen. Die Musik bleibt schlecht. Die Schweiz bleibt neutral. Nur wenn die Schweiz außer Konkurrenz ist, bleibt Österreich noch neutraler. We’re here and we’re queer! Wo die Mitstreitenden mit Trumpkrawatte auftreten, Traumata verarbeiten und befreundete sich jeden, weniger befreundete sich keinen Punkt zuschanzen, ist Österreich offenbar trotz (oder wegen) Queerness ein genehmer Mittelweg. Musikalisch ist JJ kein Einzelfall - den Tenor zum Tenor haben sich einige beim letzjährigen Gewinner Schweiz mit Nemo (und bei Conchita sowieso) abgeschaut. Manche können es besser als andere, bleibt hier anzumerken. Offenbar ist es aber mittlerweile der Konsens, dass die eine Regenbogenflagge die anderen übertrumpft. Und das wäre auch eigentlich wunderbar - aber Europa ist nicht “United By Music”, auch nicht vereint unter einer Regenbogenflagge.
Es scheint, als wäre diese, so sehr es auch für mich die richtige, für andere die umso problematischere sein mag, die einzige, auf die man sich irgendwie einigen kann. Lieber verbiegen für den Regenbogen als sich die offensichtlich politische Volte der Veranstaltung einzugestehen. Das Konzept des ESC ist schon immer so erbaulich wie erlogen. In Zeiten wie diesen fällt noch mehr auf, wie sehr es nie um Musik ging, so gut manche Lieder auch sind oder waren. Wer gewinnt, hat immer mehr mit Beliebtheit (oder fehlender Unbeliebtheit) zu tun, als mit musikalischer Kompetenz. So sonnen wir in Österreich uns in Neutralität und Europa ist froh, ein halbwegs unproblematisches Siegerland zu haben. Man möchte die musikalische Qualität der Lieder gar nicht unter den Teppich kehren, vielmehr ist sie einfach nebensächlich.
Wie schön, dass es dieses Jahr eine so unterstützenswerte und dazu talentierte Person zum Sieg geschafft hat - man fragt (sorgt) sich nur, wann der ESC sich endlich seiner Funktion besinnt und nicht klandestin Länder ausschließt, sondern sich wirklich politisch äußert. Das Publikumsvoting, das Israel für sich entschied, drückt definitiv den Wunsch des Publikums, oder zumindest eine Tendenz zum Politischen aus. Fechtet das doch gerne auf der Bühne aus. Vielleicht brauchen wir den einen Abend, wo sich alle “United By Music” fühlen. Ich brauche ihn auf jeden Fall. Aber zu sehr wird man erinnert, dass das alles leider nicht mit Musik ausgefochten wird. Sollte es vielleicht – unter der einen Regenbogenflagge, in der alle Farben aller Flaggen vorkommen.
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Abbildung: Screenshot, JJ bei der Performance seines Gewinnerliedes
