
Die Burg und der Brand
Die Burg wurde 1343 errichtet und befindet sich in einem außergewöhnlich guten Zustand. Ihre Räume sind edel und gediegen, reich an Geschichte und historischen Details, und ihre Ursprünge reichen bis in die Gotik zurück. Kürzlich luden die Eigentümer zusammen mit einem Auktionshaus zu einem Dinner im historischen Wehrturm, der sich an der nordöstlichen Flanke der Burg erhebt. Der Turm selbst ist in bemerkenswerter Verfassung, als hätte die Zeit ihn vergessen. Spätere Jahrhunderte hatten einige Fenster in die Sockelzone geschlagen, um Licht einzulassen und eine Beleuchtung zu ermöglichen. Das Gebäude ist imposant, hoch aufragend und gewölbt. An den Innenseiten sind nischenartige Ausnehmungen zu erkennen, in denen einst Balken saßen, die die Geschosse trugen. Insgesamt waren drei Ebenen eingezogen, doch keine davon ist erhalten geblieben. Nur wenige Jahrzehnte nach der Errichtung kamen die Appenzeller von jenseits des Rheins und setzten Schloss und Turm in Brand. Von der Verheerung ist heute fast nichts mehr zu sehen – mit Ausnahme einiger weniger Mauersteine, die eine rötliche Färbung aufweisen. Sie waren der Hitze des Feuers ausgesetzt und haben ihre mineralische Struktur verändert, als hätten sie die Glut in sich eingesogen und diese Farben “heraus geschwitzt.”
Das Dinner fand bei Kerzenlicht statt. Silberne Kandelaber erhellten die Tafel, und ihr Licht warf tanzende Schatten auf die groben Steinwände, die wie Zeugen vergangener Jahrhunderte wirkten. Die Gesellschaft war angeregt, die Stimmung heiter. Wer kurz auf einen der kleinen terrassenartigen Vorsprünge trat, konnte seinen Blick über das langgestreckte Tal schweifen lassen. Die erleuchteten Häuser, die funkelnden Fahrzeuge und Züge erschienen in der Ferne wie Nadelspitzen, die sich in der Dunkelheit bewegten. Es war ein Sternenbild winziger elektrischer Lichter, ein Geflirre an Licht, durchzogen von Autobahnen und Schienensträngen. Nur der See am Horizont war in ein beruhigtes Schwarz getaucht. Drinnen versetzten die Kerzenflammen die Gäste zurück in eine vorindustrielle Zeit. Wachs schmolz und rann in weichen Stalaktiten an den Kandelabern hinab, während der Wein und das Wasser in den Gläsern die Lichter des Feuers spiegelten.
Als sich die Gesellschaft allmählich aufzulösen begann, verbreitete sich die Nachricht von einem Waldbrand, der in der Nähe ausgebrochen war – etwas oberhalb des Schlosses. Es bestand keine Gefahr für die Gäste, der Brand war weit genug entfernt. Doch die Feuerwehr, die bereits eingetroffen war, hatte den am Fuße des Burgberges gelegenen Teich als Wasserreservoir genutzt und dafür die Zufahrtsstraße gesperrt. Ein Verlassen des Schlosses war vorerst nicht möglich. Ein Hauch von Unruhe mischte sich in die ausgelassene Stimmung. Doch die klare Märznacht, die kulinarischen Genüsse und die angeregten Gespräche ließen die Sorge in den Hintergrund treten. Die meisten Gäste hatten den Shuttle-Service genutzt, der sie über die enge Forststraße hinaufgebracht hatte. Die Fahrzeuge waren im Tal geblieben.
Ein Waldbrand zu Frühlingsbeginn in einer alpinen Region ist eine Anomalie. Vorarlberg ist ein Landstrich, der mehr mit Wasser als mit Feuer zu kämpfen hat. Überschwemmungen, Vermurungen, unbewohnbar gewordene Häuser – das sind die Bedrohungen, von denen immer öfter zu hören ist. Doch in den letzten Wochen hatte sich eine ungewöhnliche Trockenheit ausgebreitet, die den Boden spröde und die Wälder anfällig machte. Waldbrände gehören bisher in die Berichte aus südlichen Gefilden, aus Südeuropa oder fernen Kontinenten, dorthin, wo man früher das „gute Wetter“ suchte. Doch diese Bilder rücken näher. Die apokalyptischen Feuersbrünste, die einst als dystopische Kulisse für Hollywoodfilme dienten, sind längst Realität geworden – nicht mehr nur in der Ferne, sondern nun auch in den Alpen. Obwohl das Ausmaß der Gefahr wie gesagt gering war, erinnerten sich einige der Gäste an die Großbrände von Los Angeles, die nur wenige Wochen her waren, auch weil die Aussicht vom Burgberg ein wenig an den Blick auf die kalifornische Metropole erinnerte.
Während ich mich entscheide, den Weg ins Tal zu Fuß zu nehmen, denke ich an einen anderen Aufbruch: 1349, nur sechs Jahre nach der Errichtung dieser Burg, brach in Vorarlberg die Pest aus. Ein Jahr zuvor hatte sie Florenz heimgesucht. Dort waren es sieben Frauen und drei Männer, die sich vor der Krankheit in die Hügel von Fiesole zurückzogen. Boccaccio erzählt in seinem »Decamerone«, wie diese junge Gesellschaft, geflohen vor dem Sterben, ihre Zuflucht mit Geschichten füllte. Sie schufen sich eine alternative Wirklichkeit, indem sie Worte gegen die allgegenwärtige Angst setzten. Ich steige hinab, vorbei an den Feuerwehrleuten, die am Teich versammelt sind, an den Scheinwerfern, die das Unterholz ausleuchten wie ein Filmset. Der Weg führt weiter ins Dunkel, dann auf eine befestigte Straße, die sich in breiten Windungen ins Tal schlängelt. Ich überlege, ob ich umkehren soll. Ob ich anfangen soll, meine eigene Geschichte zu erzählen.
Denn das Feuer in dieser Nacht ist nicht bloß ein Naturereignis. Es ist nicht die Bedrohung eines äußeren Feindes wie es im 14. Jahrhundert die Appenzeller waren. Es ist eine tiefere, grundlegendere Bedrohung – eine, die den ganzen Planeten ergreift: eine klimatische Erhitzung, die keinen Ort des Rückzugs mehr zulässt. Weder Burgmauern noch Berge, weder Seen noch Grenzen halten sie auf. Es gibt kein Außen mehr, keine Flucht. Das Feuer ist nicht mehr nur ein Symbol, sondern eine Tatsache.
Die Steine des Wehrturms, einst von den Flammen der Angreifer gerötet, tragen die Erinnerung an das Feuer in sich. Heute ist es, als begänne der Planet selbst zu glimmen, als würde er unter der Last unserer Existenz schwitzen. Die Katastrophe ist keine plötzliche Verheerung mehr, sondern ein schleichendes Glimmen, das unter der Oberfläche lodert. Wir können Geschichten erzählen, doch werden sie noch den Schutz bieten, den wir einst in ihnen suchten? Oder müssen sie sich wandeln? Oder müssen sie, wie Kunst es seit jeher versucht hat, einen neuen Weg weisen? Kunst kann möglicherweise eine Antwort auf Krisen liefern: ein Versuch, das Unbegreifliche zu fassen, Sinn zu stiften oder zu warnen. Vielleicht muss sie nun mehr sein als ein Refugium. Vielleicht muss sie zu einem Weckruf werden, der nicht nur erzählt, sondern verändert.
