Werbung
,

Klára Hosnedlová. embrace: Vergangenheit im Stadium der Zukunft

Überdimensionalität und majestätische Größe kennzeichnen die Skulpturen und raumgreifenden Arbeiten von Künstlerinnen im Zeitalter der turbulenten Aufmerksamkeitsökonomie. Sie bestehen überwiegend oder ausschließlich aus organischen Materialien wie Leinen, Holz, Steinen, Sand etc. Magdalena Abakanowicz, Louise Bourgeois oder Cosima von Bonin haben in dieser Hinsicht ebenso wie Magdalena Jetelová 1992 im Wiener MAK mit ihrer riesigen Skulptur Domestication of a Pyramid Werke geschaffen, die in ihrer Eindrücklichkeit ihresgleichen suchen. Die aus dem mährischen Teil der Slowakei stammende Multimediakünstlerin Klara Hosnedlová (*1990) setzt diese spekulative Tradition mit ihrer viel beachteten Ausstellung embrance in der historischen Halle des Hamburger Bahnhofs in Berlin in exzeptioneller Weise fort. Die sechs riesigen geisterhaft-biomorphen Figuren aus gewebtem Flachs und Hanf, die das Zentrum der begehbaren Installation beherrschen, sowie die gestrickten Bildausschnitte an den Wänden oder teilweise in die neun Meter hohen Tapisserien bezeichnet die Co-Kuratorin Anna-Catharina Gebbers im Katalog schlicht mit dem Adjektiv soft. Hosnedlovás Soft Sculptures vermögen zu faszinieren und wirken bei manchem Besucher sogar stimmungsaufhellend, bei anderen hingegen ein wenig beängstigend.

Wie die bereits erwähnte Tschechin Jetelová interessiert sich Klará Hosnedlová ebenso für die umgebende Architektur und ihre Symbolik. Der Bahnhof ist jener Ort, an dem sich viele soziale Prozesse wie Migration oder die Abhängigkeit von Heimat und Fernweh in der postindustriellen Gesellschaft manifestieren. Und so wölben sich neben den hybriden Flachsskulpturen mit ihren ausladenden Tentakeln, die uns laut Künstlerin auch Schutz bieten sollen, seitlich der gemauerten Arkaden drei mit Sandstein verkleidete Reliefs mit einer irritierenden, feinsten Strickerei, die wie Malerei wirkt. Die Reliefs bringen trotz ihres archäologischen, fossilen Charakters eine etwas kühlere Sci-Fi-Atmosphäre in die Inszenierung. Ästhetisch knüpfen sie an die grauen Betonplatten des Fußbodens an, der an mehreren Stellen aufgerissen und mit schwarzen Pfützen aus Epoxidharz übersät ist, die die Architektur der Halle widerspiegeln: Eine solipsistische Erinnerung an den architektonischen Brutalismus Ostmitteleuropas und die Technizität der kommunistischen Ära.

In Hosnedlovás Installation finden sich zahlreiche Anspielungen auf die Zeit vor der kapitalistischen Wende sowie auf Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit, etwa an Böhmen, das seit dem Mittelalter eine wichtige Region für den Anbau und die Verarbeitung von Flachs war. Embrance ist, wie die Künstlerin selbst angibt, als eine (unvollendete) Geschichte zu verstehen, die aus einer Vielzahl von Schichten und parallelen Erzählungen besteht. Zu den dokumentarischen Artefakten als Unterlagen zählen ferner Filme, die auf bestimmten Romanen basieren, sowie Fragmenten ihrer eigenen Performances, die sie ohne Publikum veranstaltet. In ihrer Kunstpraxis legt Hosnedlová ein besonderes Augenmerk auf die Wechselbeziehungen und Kontraste zwischen weichen, natürlichen und harten, industriellen Oberflächen im Kontext menschlicher Arbeit und handwerklichen Wissens. Wasser, Mode und erstmals auch (mystische) Techno-Klangtexturen und volkstümlicher Gesang eines Prager Frauenchors spielen in den fragilen, sinnlich schönen und wandelbaren Landschaften eine entscheidende Rolle. Die in den Bildern und Skulpturen gequeerte Sinnlichkeit, die in dieser multipolaren Ausstellung besonders reizvoll zur Geltung kommt, kann von den Betrachter:innen unterschiedlich interpretiert und erlebt werden. Mir fällt dazu auch das berühmte Bild Europa nach dem Regen II (⤇ Link zum Bild) ein, welches Max Ernst während des Zweiten Weltkriegs (1940-42) gemalt hat. Und was Roland Barthes einmal in Bezug auf die Mode formuliert hat, lässt sich auch hier als Fazit festhalten. Denn es sind die Kleider, die der bloßen Sinnlichkeit einen Sinn geben.

Ermöglicht wird das aufwändige Projekt vom Chanel Culture Fund im Rahmen der dreijährigen Partnerschaft mit dem Hamburger Bahnhof - Nationalgalerie der Gegenwart.

Mehr Texte von Goschka Gawlik

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Klára Hosnedlová. embrace
01.05 - 26.10.2025

Hamburger Bahnhof - Nationalgalerie der Gegenwart
10557 Berlin, Invalidenstraße 50- 51
Tel: +49 30 266424242
http://www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/hamburger-bahnhof/home.html
Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr10-18, Do 10-20, Sa, So 11-18 h


Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2025 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: