
Der Zöllner, die Frau und die Diebe
Über ein gestohlenes Werk von Pieter Brueghel dem Jüngeren
Der deutsche Kunsthistoriker Horst Bredekamp formulierte vor einigen Jahren eine Auffassung, wonach Bilder nicht nur passive Objekte sind, sondern als Akteure mit eigener Handlungsmacht verstanden werden sollten. Sie sind nicht bloß Angebote zur Rezeption, Gegenstände kontemplativer Betrachtung oder Quellen der Begeisterung, sondern besitzen eine eigene Wirkmächtigkeit. Bilder sind handlungsfähig, insofern ihnen eine Eigenaktivität zugeschrieben werden kann. Diese Vorstellung mag zunächst ungewöhnlich erscheinen, ist aber zugleich nachvollziehbar. Sie speist sich aus der Hoffnung, dass Kunst eine Wirkung entfaltet, dass sie Einfluss auf das Denken und Handeln von Menschen nimmt. Bredekamp unterscheidet verschiedene Arten des »Bildakts«. Besonders bedeutsam ist dabei der “substitutive” Bildakt, der seine Kraft aus der Austauschbarkeit von Körper und Bild bezieht. Das Bild übernimmt dabei eine Stellvertreterfunktion – sei es im Recht, in der Politik oder in Zeiten der Bilderstürme, in denen Bild und Person oft in eins gesetzt werden.
Diese theoretische Perspektive erhält eine unerwartete Bestätigung durch ein aktuelles Ereignis: In den Niederlanden ist vergangene Woche ein verschollen geglaubtes Gemälde von Pieter Brueghel dem Jüngeren wiederaufgetaucht. Das Bild, das in der Stadt Gouda ausgestellt wurde, konnte als jenes Werk identifiziert werden, das 1974 aus dem Nationalmuseum in Danzig gestohlen wurde. Es ist nur wenige Zentimeter groß, rund und mit einem achteckigen Rahmen aus dunklem Holz eingefasst. Die Darstellung zeigt eine Frau in traditioneller flämischer Tracht: ein weißes Kopftuch, eine grünlich-dunkle Jacke mit langen Ärmeln, eine weiße Schürze über einem roten Rock und einfache, robuste Schuhe. In der linken Hand trägt sie einen Wassereimer, in der rechten eine eiserne Zange mit glühenden Kohlen. Hinter ihr erstreckt sich eine ländliche Szenerie mit Stroh gedeckten Häusern, einem kleinen Bach und Menschen, die bei der Feldarbeit, im Gespräch oder mit dem Füttern von Hühnern beschäftigt sind. Der achteckige Rahmen verstärkt den Eindruck, durch ein Fenster in eine vergangene Zeit zu blicken. Stilistisch ist das Werk typisch für die flämische Malerei der Renaissance, die sich durch eine detailreiche, erzählerische Darstellung des Landlebens auszeichnet. Die Frau wirkt beinahe wie eine Allegorie der alltäglichen, oft unsichtbaren Arbeit der bäuerlichen Bevölkerung – ein Motiv, das Brueghel immer wieder aufgriff.
Erstaunlich ist, dass dieses Bild offenbar selbst eine Art Handlungsmacht bewiesen hat. Seine Abwesenheit blieb zunächst unbemerkt, bis eine Reinigungskraft das Werk versehentlich von der Wand stieß und der Rahmen zerbrach. Oder – wenn man Bredekamps Theorie folgen möchte – vielleicht stieß das Bild die Reinigungskraft an. Diese war vermutlich ebenfalls mit Wasser und einem Eimer unterwegs – eine unerwartete Solidarität über Jahrhunderte hinweg. Der Bruch des Rahmens lenkte die Aufmerksamkeit darauf, dass das Bild, das an der Wand hing, nicht das Original war, sondern eine Kopie. Die Diebe hatten das echte Gemälde durch eine Reproduktion ersetzt. Dies zeigt, dass nicht nur Originale, sondern auch Kopien und Generika eine Wirkung entfalten können – eine Beobachtung, die Bredekamp bereits in seine Theorie des Bildakts mit bedachte. Denn diese umfasst sämtliche Bildgattungen und Medien, unabhängig von ihrer künstlerischen Wertigkeit.
Tatsächlich entfaltete das Danziger Bild seine Wirkung auf das Museumspersonal, indem es – gleichsam durch einen Akt der Selbstentlarvung – seine eigene Täuschung offenbarte. Bei der genaueren Untersuchung des Saals stellte sich nämlich heraus, dass noch ein weiteres Werk gestohlen und durch eine Kopie ersetzt worden war: eine Skizze von Anthonis van Dyck, die Christus am Kreuz darstellt – eine Leidensgeschichte, die ihrerseits auf die Auferstehung wartet. Allerdings konnte dieses Original bislang nicht ausfindig gemacht werden. Der Bildakt scheint hier also noch nicht seine volle Wirkung entfaltet zu haben.
Im Fall des Brueghel-Tondos jedoch erwies sich der Bildakt als ausgesprochen wirksam. Ein aufmerksamer Journalist, der eine Abbildung des Werkes in einem Archiv entdeckte, identifizierte das in Gouda ausgestellte Gemälde schließlich als eines der gesuchten Werke auf der »Most Wanted«-Liste für gestohlene Kunst. Einige, darunter die britische Zeitung The Guardian, folgen der Theorie des Kunstdetektivs Arthur Brand, wonach der Diebstahl ein “Expertenjob” gewesen sei, vermutlich von Geheimdienstkreisen durchgeführt. Brand bemerkte, dass sich in einer kommunistischen Diktatur nur wenige trauten, ein Kunstwerk aus einem Museum zu stehlen – und dass noch weniger Personen über die Kontakte verfügten, ein solches Objekt ins Ausland zu schmuggeln. Als die polnische Polizei den Fall 2008 erneut aufrollte, stellte sich heraus, dass sämtliche Archivmaterialien zu dem Diebstahl vernichtet worden waren. Ehemalige Geheimdienstmitarbeiter:innen äußerten sogar den Verdacht, dass Personen aus ihren eigenen Reihen in die Tat verwickelt gewesen seien.
Eine besonders düstere Episode verleiht diesem Fall zusätzliche Brisanz: Am 26. April 1974, nur zwei Tage nach der Entdeckung des Diebstahls, wurde auf dem Friedhof der sowjetischen Soldaten an der Legionów-Straße in Gdynia ein Mann in Flammen gefunden. Romuald Werner, ein Zollbeamter, der den Kulturminister auf die illegale Ausfuhr von Kunstwerken über den Hafen von Gdynia hingewiesen hatte, starb noch am selben Tag – zwei Stunden bevor er in der städtischen Polizeidirektion von Gdynia verhört werden sollte. Die Ermittlungen zu seinem Tod wurden rasch eingestellt. Bemerkenswert ist, dass das Gemälde Brueghels auf nahezu unheimliche Weise diese Ereignisse zu spiegeln scheint. Es zeigt nicht nur die Gegensätze von Wasser und Feuer, sondern auch den Bach als Grenze – eine unsichtbare, aber folgenschwere Linie zwischen Enthüllung und Vertuschung, zwischen Gerechtigkeit und Verschleierung, zwischen den Fronten des Kalten Krieges. Werner befand sich auf der einen Seite dieser Grenze – wie die Frau im Bild –, doch er konnte das heiße Eisen nicht halten und wurde selbst zum Opfer.
In diesem Sinne erscheint das Gemälde als ein aktiver Akteur, der eine bildhafte Parallele zu den historischen Geschehnissen zieht. Die zentrale Frage bleibt jedoch: Kann ein Kunstwerk tatsächlich als Appell wirken – als Aufruf an jene, die nach Wahrheit und Aufklärung streben, und als Menetekel für jene, die sich an ihm vergangen haben? Falls dem so ist, könnte seine Wiederentdeckung nicht nur eine historische Enthüllung bedeuten, sondern auch eine Mahnung: Die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen – ihre Schatten fallen bis in die Gegenwart und Bilder nehmen späte Rache.
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Abbildung: © Fred ERSNT / Museum Gouda / APA - Austria Presse Agentur
